FEUILLETON-ZEITGEIST: Zeitgeist und Geschichte beim Nachmittagstee

FEUILLETON-ZEITGEIST

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„Zeitgeist und Geschichte beim Nachmittagstee“

Die Geschichte hatte die Nase voll. Viele Tausende Jahre hatte sie Nachsicht mit den Menschen geübt. Denn sie besaßen doch die Fähigkeit zur Vernunft und zur Erkenntnis: Literatur und Kunst, Aufklärung und Philosophie, und sie kannten auch die dreistufige Entwicklung der Vernunft aus Emotionalität über die Tugend hin zur Rationalität. Sie müssten doch, dachte die Geschichte, alles gelernt haben, um als mündige Mitglieder einer Gesellschaft ihre Gesellschaft vernunftgemäß mit Lust und Leidenschaft zu verwalten und zu gestalten.

Als die Geschichte das Refugium des Zeitgeistes erreichte, stoppte sie. „Zeitgeist, bis du da?“, fragte sie. „Jaa“, schnaufte der Zeitgeist, denn er hatte sich mit den neuesten Beschwerden der Spötter am Handlungsrepertoire des Politikpersonals befasst und sie in einem Anfall von Ärger in den Papierkorb geworfen. Nun brauchte er sie wieder. Der Zeitgeist war ja auch nicht mehr der Jüngste, genauso wenig wie die Geschichte. Sie waren sozusagen ein älteres Direktorenpaar einer menschlichen Bildungseinrichtung, deren Motto Goethe mal für ein kurzes, beinahe nur hinskizziertes Schauspiel benutzt hatte. „Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter erst im Sturm der Zeit“. Die Geschichte schaute auf den Zeitgeist. „Deine Weste ist verrutscht“, sagte sie und zupfte am Bund der Weste und am Kragen des Hemdes. Dann betrachtete sie ihr Werk: „Siehst gut aus für dein Alter“, sagte die Geschichte. Der Zeitgeist grinste. „Dir sieht man deines gar nicht an, nur die Filigranität deiner Erfahrungen, welche….“ Mitten in den Satz hinein lachte die Geschichte, und der Zeitgeist lachte mit. „Willst du einen Tee nehmen?“, fragte der Zeitgeist. „Ja gerne“, sagte die Geschichte, „aber bitte mit Sanddornlikör.“ „Dann nehmen wir den Tee aber im Garten“, schlug der Zeitgeist vor. „Oh ja“, stimmte die Geschichte zu, „dann können wir im Sonnenschein auf einer Bank sitzen und unser abgeschlossenes Lebenswerk betrachten“, sagte die Geschichte. „Unser Lebenswerk ist nie abgeschlossen“, tadelte der Zeitgeist milde. Die Geschichte lachte. „Hegel würde sich ein Loch in die Socken freuen“, sagte sie. Der Zeitgeist sagte: „Apropos Hegel. Wie hieß noch mal der vergleichsweise junge Mann, der Politikprofessor in Amerika war und meinte, die Menschheitsentwicklung sei mit dem Untergang von Ostblock und Sozialismus an ihrem Ende angekommen?“ Die Geschichte versuchte sich zu erinnern. „Irgendwas mit Fuck You“, murmelte sie. Dann hatte sie es: „Fukuyama, Francis Fukuyama. Und das Buch hieß „Das Ende der Geschichte“. „Ach, liebe Geschichte, da hat der Professor schon beim Titel Schwachsinn verfasst. Is ja ne Blasphemie gegen dich.“ „Na so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Denn Blaspemien und andere Schmähungen – da stehen wir doch drüber, was, Zeitgeist, wir stehen doch drüber, oder?“ Der Zeitgeist nickte bedächtig. Blasphemien, Schmähungen: sowas gabs tatsächlich. Manchmal wurden sogar die besten Ideen und edelsten Gedanken verlacht und Geschmäht. „Blaspemien und Schmähungen gibt es wirklich. Das Darüberstehn ist bisweilen schwer“, sagte der Zeitgeist, „aber hier möchte ich mal gerne Gandhi zitieren: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“

Dann zupfte er an seinem Strohhut und anschließend an der Fliege, die er trug, weil er keine Krawatten mochte. „Dabei gab es im 17. Jahrhundert Fächerartig um den Hals gebundene Tücher, die richtig elegant aussahen. deren Ursprung manche in Kroatien sehen, woraus dann sprachgeschichtlich auch der Ausdruck „Krawatte“ abgeleitet wurde. Kroatien heißt in der Landesprache Hvratska. Das H hört man nicht. Der Teil, den man sofort hört, hört sich nach vrat an, und mit ein bisschen linguistischer Fantasie kommt von von vrat auf kravat und somit auf die Krawatte.“, dozierte der Zeitgeist. Die Geschichte lauschte andächtig in ihren Erinnerungen. „Moment, moment“, sagte die Geschichte, „lieber Zeitgeist, du bist grad ein wenig schnell mit Deinen Zeitsprüngen. Wie kommst du jetzt von den Schmähungen zu den Kravatten?“ „Da gibts keinen Zusammenhang, jedenfalls keinen kausalen.“ „Ach?“ sagte die Geschichte. Aufmerksam kam sie näher. Dinge aus ihrem Fachbereich, wenn sie zeitlich zusammenfielen, interessierten sie sehr. „Haben die Kravatten historische Bedeutung?“, fragte die Geschichte. „Liebe Geschichte, wenn die Abfolge des Geschehens kausal wäre, dann würde doch gar nicht alles passieren können. Dann würde doch nur passieren, was Ursache und Wirkung ist. Aber es passieren in einem Zeitabschnitt immer so viele Dinge, von denen manche gar nichts miteinander zu tun haben. Und von zwei Dingen, die nichts miteinander zu tun haben, kann eines nicht die Ursache des Andern sein.“ „Den kenn ich, lieber Zeitgeist, der hieß Baruch Spinoza. Mit dem hab ich auch mal Tee getrunken.“ Die Geschichte und der Zeitgeist kuckten sich an. Die Geschichte forschend, der Zeitgeist verständnislos, bis sie beide lachten. „Und weißt du was, wenn ich dem Spinoza nicht Zitrone in den Tee getan hätte, dann wäre seine Darstellung der Ethik nach der geometrischen Methode nie fertig geworden.“ „Ja, liebe Geschichte, so sind es mal wieder die Unwägbarkeiten, die selbst unseren Plänen einen ungewissen Ausgang bereiten.“ „Duhuu, Zeitgeist? Wolln wir mal kucken, was wir können? Wolln wir mal kucken, obs wieder eine kleine Unwägbarkeit gibt, die den Gang der Dinge entscheidet? Wolln wir mal die Menschen auf die Idee bringen, einen Kongress der Weltanschauungen abzuhalten, wo sie sich aus unserem Wirken wie von einem üppigen Geistesbüffett bedienen und ihren Verstand vor dem Sodbrennen ihrer ständigen Kriege bewahren? Denn eins sag ich Dir, lieber Zeitgeist: es gibt keinen gerechten Krieg – ich hab ihn nicht vorgesehen – und Konflikte kann man auch anders lösen. Oder wie dein famoser Gandhi sagt: Der Schmerz, den ich Dir zufüge, verletzt mich selbst viel mehr.“

„Liebste Geschichte – ja, die Unwägbarkeit. Mir isses so, als kenne ich einen, der Fontane mag. Der macht aber nur mit, wenn er sich nicht instrumentalisiert fühlt. Die Unwägbarkeit, die wir suchen, muss jemand sein, dessen Herzensbedürfnis es ist, übrigbleibende Wege zu finden, wenn die Hauptkräfte der Entwicklung ex Kathedra festlegen, dass es zwei Wege gibt, und tertium non datur.

„Hach, lieber Zeitgeist, wenn am Ende rauskommt, dass der Erfolg jeglichen Streben davon abhängt, dass niemand in fremden Hamsterrädern Rollen spielen muss, die nicht mit den eigenen Wohlfühlmomenten überein stimmen, dann wird das Tun der Leute im Laufe der Zeit und der Sammlung von Geist in dieser Zeit dazu führen, dass die Menschheit mit der Schöpfung klüger umgeht.“

„Boah, liebste Geschichte, was für ein epochales Statement. Wenns uns nicht gäbe, keine Geschichte und keinen Zeitgeist, dann gäbs auch keine Hoffnung da unten.“

An die kleine Unwägbarkeit des Schöpfers dachten sie in diesem Moment gar nicht.

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