Hannes Nagel
Rezension „Das geheime Prinzip der Liebe“
Donnerstag, 19. Januar 2012
„Nichts fragen, nichts verlangen“
Zuerst bekommt eine Frau Brief von einem Unbekannten. Der Unbekannte benutzt keine Anredeformulierungen. Die Frau weiß nicht, ob wirklich sie gemeint ist oder vielleicht jemand anders. Und sie versteht zum Teil auch gar nicht, was der Briefschreiber ihr da erzählt. Denn er setzt etwas als bekannt voraus, was die Frau nur wissen kann, wenn sie wirklich die richtige Adressatin des Briefes ist. Aber ein Irrtum können die Briefe auch nicht sein, denn sie kommen als Fortsetzung regelmäßig bei der Frau an.
Wenn Sie das Buch lesen, wird es Ihnen genauso gehen wie der Frau in dem Buch. Sie wissen gar nicht, ob Sie gemeint sind. Es kommt Ihnen vor, als würden Sie mit Privatem behelligt, das besser bei den Leuten aufgehoben wäre, die es angeht. Sicher kennen Sie die Darstellungsweise in Büchern: Die Nebenhandlung, zum Beispiel Briefe oder Dokumentabschriften, werden kursiv gesetzt, damit man sie von der Haupthandlung unterscheiden kann. Hier ist es umgekehrt. Die Erzählung der Frau über die Tatsache, dass sie dauernd Briefe bekommt, ist wie nebensächlich kursiv gesetzt. Der Inhalt des Briefes aber, der ist normal gedruckt wie die Haupthandlung. Also ist sind die Briefe die Haupthandlung. Was aber hat die Adressatin damit zu tun? Sie vermutet, es habe mit ihrem Beruf zu tun. Sie ist nämlich Verlegerin und lässt daher viele Manuskripte von neuen Autoren liegen, weil sie keine Zeit findet, sie zu lesen. Weil diese Briefe aber ihre Aufmerksamkeit erregen, nimmt sie an, der Autor habe sich bloß eine besonders gute Masche einfallen lassen, um bei der Verlegerin Gehör zu finden und Wohlwollen für sein Werk.
Die Verlegerin glaubt selbst nicht an diese Zweckrationalität. Denn die Briefe kommen weiterhin mit verstörender Regelmäßigkeit. Sie beginnen auch, persönlich zu werden. Und dann stößt die Verlegerin und mit ihr die Leser von Helene Gremillons Buch „Das geheime Prinzip der Liebe“ auf folgende kurze Passage: Liebe Papier-Hyäne, eine Frau, die ich sehr gerne habe, kann kein Kind bekommen. Ich will keine Kinder haben. Das Einzige, was in meinem Leben zählt, ist die Malerei. Deshalb würde ich gerne ihr Kind austragen. So könnte ich ihr das geben, was ihr fehlt“. Das ist die erste Spur zur Lösung des Rätsels. Sozusagen die Prämisse zur inneren Logik des Romans. Also die Antwort auf “Das geheime Prinzip der Liebe”
Helene Gremillon, „Das geheime Prinzip der Liebe“, Hofmann und Campe, Hamburg 2011