BEWEGUNSMELDER
„Es brodelt“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die verbliebenen Menschen zur Ruhe kommen. Weil es viele nicht mehr gab, wurde fast jeder gebraucht. Die Chancen waren da, zumindest theoretisch, wenn auch nicht für Alles. Aber zumindest für kleine Jobs, um sich über Wasser zu halten, gab es Chancen auch für Leute, die etwas anderes konnten oder wollten als Malocherjobs.
Neulich sagte jemand: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges macht die Geschichte eine Atempause, und das Land ist geprägt von Restauration. Es sammelt sich. Es besinnt sich wieder. Worauf besinnt es sich? Die These war gemein, denn sie ließ mir keine Ruhe, und ich bedarf der Ruhe zur Zeit sehr. Es beruhigte mich daher, als ich einen Zusammenhang zwischen Restauration, Stagnation und Brodeln sah. Restauration war das große Wundenlecken mit dem anschließenden „Jeder wird gebraucht“. Fast konnte man es sich aussuchen. Dann kam die Zeit der Stagnation. In der Stagnation wird nicht mehr jeder gebraucht. Es stagniert bei Jobs. Statt dreijähriger Berufsausbildung soll jetzt eine zweiwöchige Anlernphase reichen, damit Aushilfskräfte Arbeiten von Fachleuten erledigen können. Es stagniert bei Chancen. Arbeitssucher werden abgelehnt, weil sie keine praktische Erfahrung haben, und sie können keine praktischen Erfahrungen sammeln, weil sie mangels praktischer Erfahrung abgelehnt und nicht eingestellt werden. Es stagniert bei Einstiegsmöglichkeiten. Dieter Hildebrandt konnte noch als Student „entdeckt“ werden, bevor er selber zum „Entdecker“ wurde, weil er einen Einsteigerjob als Platzanweiser und Kartenabreißer im Theater bekam, um sich damit was Geld zum Studium hinzu zu verdienen. Es stagniert nämlich auch das Interesse am Menschen. Der ist nur für die Verwertung von Jobvergeberinteressen von Bedeutung. Ausgequetschte Zitronen landen auf dem Kompost und interessieren niemanden mehr. Aus diesem Grund stagnieren auch Talente in der Warteschleife. Sie möchten und sie dürfen nicht. Daher fängt es in ihnen an zu brodeln. Die Stagnation ist der Übergang von der Restauration zum Brodeln. Es brodelt in den ungenutzten Menschen, die ihren Talenten einen Weg bahnen möchten.
Es brodelt aber womöglich auch in der Gesellschaft, weil der friedlich schlafende Atem der Geschichte unruhig wird. Durch Träume, oder weil der Morgen dämmert? Wenn ich mich im Halbschlaf auf einen Morgenkaffee freueen kann, stehe ich ruhig und geborgen auf. Wenn ich nichts habe, worauf ich mich freuen kann, wache ich mit brodelndem Blutdruck und Tatendrang auf, weiß aber nicht, zu welchen Taten es mich drängt. Dann staut sich der Druck, und der Geist muss ein Thema finden, an dem sich der Tatendrang besänftigen kann. Bezogen auf eine brodelnde Gesellschaft heißt dies: Es gibt statt Morgenkaffee beim Aufwachen die Ahnung eines Sozialgeheimdienstes, der nach den Zuckerstückchen und dem Belag auf der Stulle schnüffelt. Wenn es schon Morgenkaffee gibt, enthält die Morgenzeitung hauptsächlich Hofberichterstattung. Beim Ausweichen von der Zeitung ins Internet zeigt Google, wie sehr die Webung dem entspricht, was man gestern aus Informationsinteresse gesucht hat, aber nicht gefunden hat. Denn nicht die Informationen zeigt die Suchmaschine an, sondern die Werbung, die sich Zecken gleich in die Haut der Informationen bohrt. Der Schein der Werbung wird zum Sein der Dinge verdreht. Kein Wunder, wenn nachher das Denken automatisiert wird. Zugang zu Bildung und Information wird rationiert. Jeder darf nur noch wissen, was zur Erfüllung von Aufgaben, die einem anderen dienen, nötig ist.
Brodelt es? Im Rahmen der von der Werbung bestimmten Möglichkeiten gibt es hierzu inzwischen häufiger Beiträge in den Medien. Holenh wir sie heruas, und verbreiten sie mündlich, theatralisch, auf Bühnen, in Clubs, miteinander, untereinander, – erzählen wir uns, was los ist, tauschen wir uns aus, und finde jeder einen Weg für das, was ihn bewegt.