FEUILLETON-TRENDS: Der Realismus der neoliberalen Lebensverhältnisse

FEUILLETON – TRENDS

Literarische Strömung: Der Realismus der neoliberalen Lebensverhältnisse

Mainstream-Feuilleton registriert neue literarische Strömung

Bücher über die Zeit und aus der Zeit, in der die Handlung spielt, zählen Literaturwissenschaftler zur sogenannten realistischen Literatur. Mal gings es dabei um sozialistischen Realismus, mal gings es um das Leben in industriellen Arbeitswelten, mal gings es um Exilliteratur von Schriftstellern, die aus Deutschland fliehen konnten und aus ihren Exilländern schrieben. Vielen gelang das nicht, so dass es auch sehr viele Autoren gibt, an deren schaffen das nationalsozialistische System jegliche Erinnerung ausgelöscht hat. Zum körperlichen Massenmord kam also noch der geistige Massenmord hinzu. Vom Kalten Krieg nach dem zweiten Weltkrieg kann man trotz aller Kritik behaupten, dass das geistige Leben zumindest nicht verödete. Der Kalte Krieg ist seit 1990 vorüber, Francis Fuckyouyama stand mit dem Buch „Das Ende der Geschichte“ parat, und die neoliberale Verödung von Arbeits-und Lebenswelten begann. Die sozialfaschistische Kälte lähmte Handlungsbereitschaft und Handlungswissen. Sie ließ die Hartz-Vier-Opfer spüren, dass sie in allem ihren Tun von den Argen kontrolliert und bestraft werden. Solches lähmt die Lebensfreude und den Geist. Aber der Geist lässt sich nicht dauerhaft lähmen. Zuerst waren es Arbeitslosenverbände und Erwerbsloseninitiativen, die juristische Texte, Urteile und Gedächtnisprotokolle sammelten. Bald gab es auf Seiten der Hartz-Vier-Opfer Worte, Argumente und Fakten, die der Willkür der Jobcenter die Grenzen zeigte. Das war gut so, denn es entstanden innerhalb der Behördenseite Gruppierungen, die ein Ohr für die Nöte der Opfer hatten und wenigstens versuchten, ihren Ermessensspielraum zu deren Gunsten auszulegen. Nur den Hardlinern der Behörden und der Politik missfiel solches. Und dann gab es einen ganz merkwürdigen Trend: Bücher über Aussenseiter, sogenannte grenzwertige Literatur und sogar das Nachmittagsfernsehen mit den ärmsten Verlierern der gesellschaftlichen Würde pieksten Jungautoren dahin, wo es weh tut, und stachelten sie an, nun ihrerseits die Opfer als Protagonisten von Trotz und Widerstand, Witz und Schalk sowie Mut und Zivilcourage darzustellen. Dieser Realismus der neoliberalen Lebensverhältnisse beschönigt nichts, zeigt und sammelt aber Beispiele, wie die Macht des Jobcenter-Regimes in ihrer schlimmsten Form wirkungslos werden kann, indem die eigene Aktivität vor dem amtlichen Zwang zu unsinnigen Maßnahmen kommt und also Fakten schafft.Die zarte Strömung des realistischen Lebens trotz neoliberaler Existenzbedingungen steht noch ganz am Anfang. Aber berechtigte Aussichten auf Erfolg hat sie.

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