REZENSION: “Das geklaute Pferdegeschirr” / “Endschnitt”

Rezension „Das geklaute Pferdegeschirr“ und „Endschnitt“

„Erzähltes muss nicht große Kunst sein“

 Bücher werden von Menschen geschrieben und Menschen zuweilen von Büchern geformt. Menschen und Büchern ist auch gemein, dass sie einander manchmal vorgestellt werden müssen, um sich kennen zu lernen. Für die Maiausgabe des Flugblattes haben zwei Leser jeweils ein Buch empfohlen, das folgenden Kriterien entspricht: Einfach erzählt, kein Anspruch auf literarische Weltgeltung und vielen Lesern ganz sicher aus der Seele gesprochen. Gerhard Knicks Büchlein aus dem Jahre 2000 heißt „Das geklaute Pferdegeschirr“: Darin sind Anekdötchen versammelt. Sie scheinen wahr und geflunkert zu sein, wie die Dinge, die im kollektiven Gedächtnis eines Dorfes nie ganz in Vergessenheit geraten und auch in der Enkelgeneration zumindest noch als „Da war doch mal was“ bekannt sind. Es sind Erinnerungen an „Watt all gifft“ oder mal gab. Damit sind solche Geschichtchen viel Lebensnaher als die die ganz große formvollendete Geschichte. Im Übrigen scheint es schon einmal ganz schön mutig, den Russen 1946 ein Pferdegeschirr zu klauen, weil das eigene so oft geflickt ist, dass es ständig reißt, wenn man ein Pferdchen vor dem Wägelchen hat. Wenn in einer Kneipe Fremde einer Stammtischrunde beim Klönen zuhören, verstehen sie nur Bahnhof und wundern sich, wie sich die Eingeweihten überhaupt noch in den semantischen Beziehungen zwischen den Äußerungen zurecht finden. Das Schönste daran ist, dass die Stammtischrunden noch drei Wochen später mit erstaunlichem Feingefühl für grammatikalische Zeitformen die Äußerungen von vor drei Wochen in indirekter Rede wiedergeben können. Da soll noch einer sagen, erzählen wäre nur etwas für Erzähler. Stammtischerzähler weisen oft einen erstaunlichen Umfang erzählerischer Übung auf – sie machen nur nicht so ein Gedöns darum wie manche Profis.

(Gerhard Knick, „Das geklaute Pferdegeschirr“, Druckerei Steffen, Friedland 2000)

 In Regine Raderschalls Büchlein „Endschnitt“ sind die Geschichten fiktiv. Weil sie aber alltäglich sind, könnte man sie auch mit dem Attribut „anekdotisch“ bezeichnen. Es sind Geschichtchen, die 13 mal mit der Hand aus dem Wörtersee geschöpft und aufs Papier dekoriert wurden. Und bleiben dabei so bescheiden wie Mitteilungen übern Gartenzaun. Möge man daran erkennen, dass der Unterschied zwischen Edelfedern und Kritzelbleistiften gar nicht so besonders groß ist. Oder wenn Sie es drastisch mögen: Am Ende des Stoffwechsels ist auch nicht mehr zu erkennen, ob einer Sekt oder Selters trank. Es dauert ein paar Geschichten, bevor das unvorhersehbare Ende in jeder Raderschall-Geschichte das durchgehende Prinzip sind, nach dem die Erzählungen des Bändchens zusammengestellt sind, und klar wird es in der Erzählung „Ein Sonntag mit Mutti“. Das Leben ist selbst im Kleinsten etwas Verblüffendes, welches man mit einem angelernten Erzählstil nicht ausdrücken kann. Beinahe tröstet es, dass sich die Seele eines Textes nicht durch einen Algorithmus ersetzen lässt.

(Regina Raderschall, „Endschnitt“, Federchen-Verlag, Neubrandenburg 2011)

Dieser Beitrag wurde unter Feuilleton-Rezension veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.