FEUILLETON-REZENSION: Das trügerische Gedächtnis

Rezension „Das trügerische Gedächtnis“

„Wegen Erinnerungsfehlern kein Lernen aus der Geschichte“

Als kleiner Junge hatte ich manchmal das Gefühl, ich könnte meinen Gedankenblitzen beim Tanzen und Hüpfen zuschauen. Ich fand das faszinierend und fragte die Menschen in meiner Umgebung, ob es ihnen bei sich selbst auch so gehe. Die Reaktionen auf meine Fragen waren für mich befremdlich. Sie sagten nicht, aber sie kuckten mich immer komisch an. Mit sooo einem Blick, von dem ich ohne jegliche Erfahrungsgrundlage annahm, er würde nichts Gutes bedeuten. „Nichts Gutes“ war bei mir damals fast gleichbedeutend mit „Gefahr.“ Ich bemerkte, dass die Umgebung manchmal mit einander tuschelte, aber schwieg, wenn ich dazu kam und fragte: „Wovon redet Ihr?“. Ich hielt es daraufhin für ein Mittel der Eigensicherung in einer unbekannten Situation, wenn ich mich mit Fragen auf Gelesenes bezog. Wenn jemals einer überprüft hätte, wieviel Bücher ich auf Grundlage der Floskel „Ich hab mal gelesen“ schon hätte gelesen haben müssen, als ich mit dem Lesen meiner ersten Bücher anfing, hätte da ein unlogischer Widerspruch auffallen müssen. Aber aus „Ich hab mal gelesen“ und „Ich hab wirklich mal gelesen“ sammelten sich dann Scherben, Bruchstücke, Fetzen und Ähnliches an, die insgesamt wie unvollständige angefangene Antworten aussahen. Ich dachte mir, eines tages werden die Bilder vielleicht vollständig zusammengesetzt sein, und dann hätte ich die Antworten. Aber davon bin ich immer noch weit entfernt. Ständig kam mir das Leben dazwischen. Seit 2010 etwa befinden sich im Lektürestapel öfter mal Aufsätze von Hirnforschern oder Rezensionen von Aufsätzen von Hirnforschern. Rezensionen wissenschaftlicher Aufsätze müssen wohl sein, um die wissenschaftlichen Aufsätze verstehen zu können. Ich hab aus diesem Lektürestapel gelesen, dass sich nun auf einmal Leute mit meinen Fragen über Gedankenblitze befassten, die mich, als ich ein kleiner Junge war, immer so komisch angekuckt hatten, wenn ich mal was fragte. Im Oktober 2016 kam „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw in meinen Lektürestapel. Das Buch muss so sehr begehrt sein, dass der Carl Hanser Verlag in München kein Rezensionsexemplar mehr übrig hatte. Aber sie hatten noch die Druckfahnen im Regal. Die Rezension des Textes erfolgt also auf der Basis der Rohfassung.Das Buch scheint nicht ganz genau zu wissen, ob es lieber von populärinteressierte Lesern verschlungen werden möchte oder doch lieber als elitäre Fachliteratur für Neurologen, Hirnforscher und Biochemiker gelten wollte. Es hätte ein richtig gutes Buch werden können, wenn es von Johannes Mario Simmel geschrieben worden wäre. Aber Simmel schreibt nicht mehr. Und Julia Shaw ist dem Ausdruck nach geschätzte 30 Lenze. Sie ist forensische Psychologin und erwähnt mehrfach, sie habe es vermocht, Menschen Erinnerungen an von ihnen nicht begangene Straftaten zu suggerieren. Wahrscheinlich war dies die Information, die mich hellhörig werden ließ. Wer Menschen einreden kann, sie hätten eine Straftat begangen, kann sie auch zu einem juristisch völlig unangreifbaren Geständnis bringen, ohne sie dafür foltern zu müssen. Ich bin bedeutend älter als Frau Shaw. Wenn ein Historiker ein Mensch ist, der sich erinnert, dann bin ich so gesehen ein Historiker. Und mich bewegt schon seit Jahrzehnten die Frage, warum die Menschheit insbesondere in der Entscheidungssituation „Krieg oder Frieden“ nicht aus der Geschichte lernt. Und wenn man ein Gedächtnis so manipulieren kann, dann interessiert mich die Missbrauchsgefahr der Gedächtnisforschung in hohem Maße.

Beim ersten Lesen stößt man auf unerwartet auf oberflächliche Modeausdrück der Autorin. Im Vorwort, worin Autoren üblicherweise erklären, warum sie meinen, den Lesern etwas mitteilen zu müssen, will Frau Shaw sich entschuldigen, dass die Behandlung des Stoffes zum Teil am Thema vorbei geht, aber dennoch auf seine Art spannend ist. „Ich kann Ihnen zwar nicht versprechen, das wissenschaftliche Gesamtbild einzufangen, aber ich hoffe, einen Frageprozeß einzuleiten.“ Natürlich kann sie das nicht versprechen. Es wäre auch sehr anmaßend, dieses Versprechen abzugeben. Seit tausenden Jahren können denkende Menschen nicht das wissenschaftliche Gesamtbild einfangen, das ihres Stoffes Thema ist. Weiter schreibt sie am Anfang der Einleitung noch: „Man kann selbst über die größten Errungenschaften der Menschheit in verständlicher Sprache berichten“. Aber sie tut es nicht. Denn schon der nächste Satz heißt: „Der Frageprozess nagt an uns, seit wir gelernt haben, die Geste der Introspektion zu nutzen.“ Da wird man schon am Anfang eines Buches genötigt, das Buch wegzulegen und sich ein Wörterbuch zu holen, um zu erkunden, was eine Introspektion sein könnte. Die Autorin erklärt das nicht. Selbstbeobachtung klingt wahrscheinlich zu unwichtig. Einige Male benutzt sie ausgerechnet das Wort Facebook , um eine Metapher auf Algorhitmus zu finden. Das ist so ähnlich wie die Nutzung des Wortes Monsanto für verantwortungsvolle Lebensmittelerzeugung. Aber nach einem Drittel des Gesamtbuches sind die Anfangsschwierigkeiten überwunden. Von einer lobenswert großen Beobachtungsvielfalt aus beschreibt Frau Shaw, wie das Gedächtnis funktioniert sowie auch die Vielfalt der Faktoren, die auf Erinnerungen negativ einwirken. Der Witz ist der, dass ausgerechnet juristische oder kriminalistische Befragungen und Verhöre sowie als Krönung beider auch geheimdienstliche und behördliche Befragungen alle Forschungsergebnisse über Erinnern, Erinnerungsbedingungen und Erinnerungsfehler ignorieren. Wenn nun einmal wissenschaftlich anerkannt ist, dass Erinnerungsfehler natürlich sind und auf Druck keine Erinnerungen abrufbar sind, so kann man nicht Irrtümer als Lügen bezeichnen. Es gibt keine Lügen und es gibt keine Antworten auff die Frage, warum man sich bei mehrfachem Wiedergeben von Ereignissen mal an dies zuerst erinnert, mal an jenes. Nur eines scheint sicher: Wenn Erinnerungen wiederkommen, so kommen sie genauso zuverläassig wieder wie die Erde nach dem Winter wieder auf die sommernahen Lichtverhältnisse ihrer Umlaufbahn ankommt.

(Julia Shaw, „Das trügerische Gedächtnis“, Carl Hanser Verlag, München 2016)

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