FEUILLETON-REZENSION: “Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914”

Rezension „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“

„Friedensresümee eines Geschichtsberaters“

Autorenthesen voran: Den ersten Weltkrieg hätte nur das europäische Proletariat verhindern können. Aber dazu hätte es die Solidarität miteinander über die jeweiligen nationalen Patriotismen stellen müssen. An dem fehlenden NEIN der Völker zum DOCH von Industrie, Banken und Herrschaftsgläubigen scheiterte die Verhütung des ersten Weltkrieges. Ein geschlossenes NEIN gegen den zweiten Weltkrieg gab es ebenfalls nicht. Es gab überhaupt nie ein geschlossenes Nein gegen Kriege. Manche Menschen taten aus Fatalismus nichts gegen Kriege und machten sich ungewollt der unterlassenen Kriegsbehinderung schuldig. Auf diese Weise bestätigte bisher jeder Krieg die Behauptung, Kriege würden„ausbrechen“, seien „naturnotwendig“ und nicht vermeidbar, denn „der Mensch sei nun mal so“. Zumindest am „der Mensch ist nun mal so“ kann eine Ausbildung zur Friedensfähigkeit etwas ändern. Friedensfähigkeit ist viel mehr als Wehrfähigkeit.
Hundert Jahre nach dem Beginn des ersten Weltkrieges und besonders seit Mitte 2016 steht wieder eine enorme Kriegsgefahr bevor. Sie wird mit dem Antiterrorkampf begründet und als Sicherung von Handelswegen und Rohstofflieferungen verharmlost. Diesmal könnte sich der Krieg aber vom Rande Europas zur Mitte wälzen. Bevor es zu spät ist, sollte das 580 Seiten starke Buch „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“ von Wolfram Wette gelesen werden oder wenigstens eine Besprechung des Buches, weil niemand gedrängt werden kann, 580 Seiten zu lesen. Es
erschien gerade im Donat-Verlag in Bremen. Der Autor Wolfram Wette ist Historiker und Friedensforscher.
Wette beginnt seine Abhandlung mit dem Basler Friedenskongress der sozialdemokratischen Parteien Europas, kurz die „Sozialistische Internationale“ genannt. Er beschreibt die Lage der Sozialdemokratie 1912 im Angesicht einer bereits drohenden Weltkriegsgefahr als Dilemma zwischen Interessenvertretung des potentiellen proletarischen Kanonenfutters und der Staatsräson zum Schutze des „empfindlichen Partei-und Gewerkschaftsapparates.“ Die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei stammten gehörten ja im Grunde alle zum Proletariat, also zur Arbeiterklasse. Also zu den einfachen Leuten. Die einfachen Leute sind immer die, die im Kriegsfall als Kanonenfutter vorgesehen sind. Nach sozialdemokratischer Vorstellung hätte sich das Kanonenfütter gegen die geforderte Militärtätigkeit durch Generalstreik und Verweigerung stemmen können. Es ist eine verlockende Vorstellung, die Jean Jaures 1906 äußerte:

„Kriege entladen sich nicht wie Gewitter aus Spannungen elementarer Kräfte. Sie entspringen einem Willensakt und sind daher nicht unabwendbar. Sie können verhütet werden, wenn dem Willensakt der herrschenden Klasse ein Willensakt der Arbeiterklasse entgegengesetzt wird.“ (Seite 28)

August Bebel wusste es besser, weil er Bismarck studiert hatte und Noske voraus sah. Er ahnte, wie der Staat
reagieren würde, wenn die Arbeiter anfingen zu streiken. Der Staat würde dann nämlich das Militär gegen die Streikenden aufmarschieren lassen. Das hätte empfindliche Folgen für den noch schwachen Partei-und Gewerkschaftsapparat haben können. Der Apparat durfte nicht zerschlagen werden. Von der Zerschlagung proletarischer Rippen, Schädel, Kiefernknochen war in der Besorgnis Bebels offenbar nicht die Rede. Bebel resümmierte:

„Wir können nichts als aufklären, Licht in die Köpfe bringen, agitieren und organisieren.“ (Seite 27-28)

Mit dieser ausführlichen Beschreibung des sozialdemokratischen Dilemmas bis zum Sündenfall der Bewilligung von Kriegskrediten für die kaiserliche Militärmaschinerie und die Kriegswirtschaftsindustrie hat Wolfram Wette eigentlich die stets gleiche Lage der Friedenssehnenden beschrieben. Sie möchten etwas tun, um Kriege zu verhüten, aber gegen den Staat als Kriegsmonopolisten traut man sich nicht heran.
Immer wieder stellt Wolfram Wette den Lesern Intellektuelle, Politiker und Künstler sowie Organisationen, Vereine und Verbände vor, die zwischen vor dem ersten Weltkrieg, zwischen Weimarer Republik und Nazizeit sowie im (West)-Deutschland des kalten Krieges einschließlich Gesamtdeutschlands im sicherheitspolitischen und militärpolitischen Wandel seit den neunziger Jahren in irgendeiner Form mit Frieden zu tun hatten. Entweder als Pazifist, der für einen gerechten und dauerhaften Frieden eintrat, oder als Verantwortungsethiker, der für die Kriege von Demokratien eine moralische oder juristische Legitimation suchte. Wolfram Wette vergleicht sie und ihre Argumente alle miteinander, um aus dem Vergleich von eventuellen Abweichungen der Ansichten einen Entwicklungsprozess von Lernen und Begreifen in Friedensfragen zu erkennen. Ergebnis: Es ist etwas da. Zumindest kann man derzeit keinem Volk in Europa mehr eine Kriegsbegeisterung einreden. Nur die Bedrohungen und Gefahren für den Frieden sind geblieben. Die Lage ruft danach aktiv zu werden. Den Völkern braucht man den Frieden nicht mehr zu erklären. Den Militärs und Politikern schon. Eine der interessantesten Erörterungen des Buches ist die Frage nach dem Unterschied der Legitimation der Kriege von Demokratien und den Kriegen von Diktaturen. Antwort: Im Grunde unterscheiden sich demokratische von diktatorischen Kriegen nur durch eine hauchdünne Unfehlbarkeitsdialektik. Weil Demokratie Marktwirtschaft und Rechtsstaat bedeute, sei ein demokratischer Krieg an sich nur als Verteidigungskrieg möglich. Und das ist falsch. Das ist genauso selbstherrlich wie die deutsche Generalstabsarroganz von Hindenburg bis Keitel. Wenn man sich die Lage so beschaut, dann möchte man meinen, der Frieden ist nur durch das einfache gemeinsame Tätigwerden für das Gemeinwohl möglich. Dazu aber braucht man keinen Nationalismus, keinen Patriotismus und keine politisch-historischen Grundsatzdebatten, sondern ein offenes Herz für die Nachbarn, weil deren Wohl und Wehe untrennbar auch das eigne ist.
(Wolfram Wette, „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“, Donat-Verlag, Bremen 2017)

 

Dieser Beitrag wurde unter Feuilleton-Rezension abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.