Quergedachtes: „Die von uns angestoßene Debatte“



Quergedachtes

Mittwoch, 17.Februar. 2010

Autor: Hannes Nagel

„Die von uns angestoßene Debatte“

1989 war es so in der DDR: Da hatte das Volk genug von der Einparteienkommunikation der SED unter Honecker und Genossen. Mit der Obrigkeit reden ging nicht sonderlich gut. Das Volk konnte den Herrschenden nicht klar machen, was es eigentlich wollte: Ein bisschen Reisefreiheit, ein bisschen Meinungsfreiheit und etwas mehr Gestaltungsspielraum als in den privaten Nischen. 1989 reichte es dem Volk. Es riss die Klappe auf. Erst wollten sie dem Volk das Maul stopfen, dann ging das nicht, und dann trat Honecker zurück. Statt seiner kam Krenz. Einer seiner ersten Sätze zur Lage des Landes und der Situation fing so an: „Der von uns eingeleitete Dialog….“. Aber der von der SED eingeleitete Dialog war nicht von Krenz und Genossen eingeleitet worden. Sondern vom Volk erzwungen. Es hatte dem Staat gesagt: „Du hörst jetzt mal zu“.

Im Februar 2010 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Hartz Vier zum Teil verfassungswidrig ist. Hartz-Vier-Opfer hatten gegen zu niedrige Regelsätze geklagt. Siehe da: Sie sind verfassungswidrig niedrig. Das Gericht gab den Damen und Herren von der Gesetzgebung auf, die Regelungen zu überarbeiten. So weit ist das demokratisch und der gesellschaftlichen Verantwortung entsprechend. Bevor andere das Maul aufreißen konnten, geiferte Guido Westerwelle los. „Spätrömische Dekadenz“ in Tateinheit mit „geistigem Sozialismus“ bescheinigte er alle, die nicht so denken wie er. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht so viel Geld haben wie Leute, die arbeiten“. Das Echo war laut und das Wort „Esel“ fiel. Einlenken wollte Westerwelle aber auch nicht, genauso wenig wie Krenz. Und da rief Westerwelle zu einer „grundlegenden Hartz Vier Debatte“ auf. Er wusste nicht, dass es die Debatte ist, die die Opfer schon längst mit denen da oben führen wollten, wenn die bloß mal zuhören würden.

Der Bimmelbahnschaffner Westerwelle ist also auf einen Zug aufgesprungen, den Heizer, Monteure, Reinigungskräfte und Gleisarbeiter fahren lassen wollen, wobei sie von diversen Entscheidungsträgern gebremst werden. Man könnte sagen: „Wir schmeissen keinen aus dem Zug“ und könnte den Schaffner in Abteil zweite Klasse bitten, um mit ihm über Fahrpläne und Dienstleistungen zu reden, besonders über den Kaffee, der ist immer zu kalt und zu teuer. Er schmeckt auch oft nicht gut. Guido Westerwelle will eine Debatte über den Sozialstaat führen. Wir wollen mitmachen. Denn wir sind die, die als Opfer, Leidtragende oder Betroffene wissen, was Hartz Vier und keine Chance auf Einkommen bedeutet. Wir möchten ihn beim Wort nehmen.

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