Die imaginäre Voliere

Baron von Feder

Mittwoch, 27. Juni 2012

Die imaginäre Voliere

 Ich finde exotische Vögel schön. Bunt und putzig flattern sie umher. Jedenfalls tun sie das, wenn ihre Volieren groß genug sind. In kleinen tragbaren Käfigen fliegen sie nicht. Vogelbauer nennt man diese traurigen Gefängniszellen. Der Anblick dämpft die Freude an den Vögeln. Halter und Züchter sagen dann: „Die sind zu ihrem Schutz da. Sonst fliegen sie ja weg und werden von anderen Vögeln angegriffen. In der Natur würden sie sterben“.

Da muss man doch einen Kompromiss finden können. Im Vogelpark Marlow gibt es zum Beispiel begehbare Volieren. Das sind riesige Drahtkuppeln, die sich über eine Grundfläche von der Größe eines Datschengrundstückes wölben. Da können sie kleinen Piepmätze fröhlich flattern und gar nicht merken, dass sie eingesperrt sind. (Außer sie sind Zugvögel und hätten im Herbst den Drang einen weiten langen Flug zu machen, selbst wenn er beschwerlich und gefahrvoll ist).

Weil die Voliere so groß wie ein Datschengrundstück ist, könnte des Halters oder Züchters Häuschen gleich mit in der Voliere stehen. Dann wäre auch er geschützt vor anderen Menschen, die ihn angreifen könnten. (Gerichtsvollzieher, Polizei – die andern kommen ja eher selten).

Bei vielen kleinen Zimmervögelchen ist es ja so, dass sie tags über frei in der Stube flattern können. Dann schwirren sie einem um den Kopf – der Luftzug kühlt, das wäre was für Ilsebilse Schludrigkeit von Brigade „Ordnung“.  Abends aber müssen die kleinen Vögelchen in ihren Käfig, der auch Bauer genannt wird. Oma legt dann eine Decke über den Käfig, dann denkt das Vögelchen, es ist Nacht, hört auf zu piepen und schläft. Morgens zieht Oma dann die Decke weg. Die Voliere von der Größe eines Datschengrundstückes mit Kuppel könnte ja nun auch tagsüber geöffnet werden. Die Vögelchen flattern richtig frei herum – ihren Schlafplatz finden sie in der Voliere. Wenn sie alle da sind, macht der Besitzer die Türe zu, singt „Alle Vögel sind schon da“ – kleine Nachtmusik, und gut ist. Die Nacht senkt sich wie Omas Decke über den Vogelbauer, die Piepmätze stellen das Zwitschern ein und schlafen. Fast naturnah, möchte man sagen, aber doch nicht ganz. Wenn die Piepmätze Exoten sind, wie zum Beispiel Papageien, Kolibris oder Webervögel, und sie würden tagsüber die Voliere verlassen, hätten sie Kontakt zum Beispiel zu Mauerseglern, Dohlen, Spatzen, Möwen, Sperbern, Lerchen und einer Vielzahl von Meisen. Das KANN gut ausgehen, MUSS aber nicht. So groß ist die Natur, das nicht unbedingt gleich die Federn fliegen müssen. Kluge Vögel fliegen nicht wie Luftwaffen-Rambos. Gerade sah ich eine Amsel fliegen, die einen Wurm in ihrem gelben Schnabel hatte, und eine Möwe befand sich zu ihr auf Kollisionskurs. Sie regelten das elegant. Wenn die Möwe ihr die Beute abjagen wollte, so hat die Amsel zumindest NEIN signalisiert, und die Möwe hat es akzeptiert. Ich weiß, daß dies eine gewagte Interpretation ist, denn was eine Möwe WILL, kann doch ein Mensch nicht wissen. Auch nicht durch die Schlussfolgerung, wenn die Amsel Futter im Schnabel trägt und die Möwe nicht, dann ist die Möwe futterneidisch, wenn sie auf die Amsel zufliegt. Als Beispiel jedoch sind vermenschlichte Interpretationen tierischer Verhaltensweisen ganz brauchbar. Die Vögel brauchen also eigentlich keine Voliere, um Schutz vor einander oder anderen zu finden. Schutzräume finden sie in der Natur auch. Mit Natur ist hier der Raum außerhalb der Voliere gemeint. Was Vögel dazu bringt, eine Voliere als geschützten Lebensraum anzuerkennen, weiß ich nicht. Vielleicht machen sie sich einfach nicht so viele Gedanken darüber. Im Grunde genommen könnte die Voliere als Konstrukt aus Maschendraht und Stahlträgern immer durchlässiger werden, bis sie faktisch nur noch eine imaginäre Voliere ist. Das heißt, wenn die Vögel zum Beispiel auf der Flucht sind, so endet die Gefahr, wenn sie das Gebiet des Datschengrundstückes erreicht haben. Die Reviere müssten einfach nur anerkannt werden. Bei Menschen wäre es analog der imaginäre Schutzraums des Rechts im Gegensatz zum physischen Schutzraum eines Bunkers. Die Unverletzbarkeit des Rechtes bedingt Vertrauen. Solange es Gründe zum Mißtrauen gibt, kann man nicht einmal im Rechtsstaat dem Recht vertrauen. Niemand kann darauf vertrauen, von einem anderen nicht wegen irgendwas vor Gericht gezerrt zu werden: Öffentlich ein Lied gesungen ist dann gleich Diebstahl geistigen Eigentums, beim Parken 2 Zentimeter auf der weißen Linie stehen wird zur Nötigung hochstilisiert, und wenn der Ton in einem Gespräch um eine Winzigkeit zu schroff klingt, wird das gleich eine Beleidigung. Auch Menschen brauchen Räume, in denen sie Ruhe zur Entspannung und Schonung vor Rechtsverletzungen finden. Aber bei den Menschen dringt die Beanspruchung bis in die privatesten Regionen vor. Als würde der kleine Piepmatz in Omas Vogelbauer nachts ständig durch Aufwecken gestresst werden.

 Mit gutem Grund haben Menschen zu allen Zeiten geseufzt, dass sie „frei wie ein Vogel“ sein möchten. Dann wären sie vielleicht auch frei von dem dummen Dünkel, sich einander das Leben künstlich schwer machen zu wollen.

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