Freies Geleit
Die Formel vom freien Geleit sollte immer dem Schutz von den Personen dienen, die um es in einer von menschgemachten Gefahren tosenden Welt gebeten hatten, um unbeschadet von einem Ort zum anderen und wieder zurück zu kommen.
1415 wurde der in Prag lehrende Theologe Jan Hus nach Konstanz zum Konzil beordert. Er sollte dort seine Lehren widerrufen, die die oberste Kirchenleitung für ketzerisch hielt. Kaiser Sigismund sicherte dem Theologen für An-und Abreise freies Geleit zu. Im Prinzip funktioniert das freie Geleit so: Jan Hus schrieb einen Brief an die zuständigen Organe. Darin stand sinngemäß: „Ich bitte um freies Geleit“. Der Kaiser schrieb zurück, das dem Antrag entsprochen werde, In Kürze werde der Bewilligungsbescheid über die Gewährung des freien Geleits entreffen. Im Fall Hus kam der Brief nicht an. Er hatte sich entsprechend seiner Mitwirkungspflicht bereits OHNE den Brief, nur mit der ANKÜNDIGUNG des Briefes auf den Weg gemacht. Mit Brief und Siegel des Kaisers aber hätte er jedem, der Hand an ihn legen wollte, den Brief gezeigt, und der hätte dann den Regeln entsprechend eine gute Weiterreise wünschen müssen.
1518 hatte der Theologe Martin Luther zum Reichstag in Worms zu erscheinen, wo er seine Lehre widerrufen sollte. Kaiser Karl hatte ihm für die Reise freies Geleit zugesichert. Im Falle Luther war das freie Geleit zumindest für den Rückweg im Verlaufe der Anhörungen zum Widerruf aufgehoben worde. Darum ließ Kurfürst Friedrich der Weise ihn entführen und gewährte Luther Asyl auf der Wartburg.
Keine Garantieklausel kann sich offenbar gegen ihre eigene Aufhebung durch eine neue Anordnung wehren. Das gilt für Verfassungen ebenso wie Schweigegelübde. Wer sich auf ein verbrieftes Recht beruft, wird im Ernstfall erleben, dass dieses Recht aufgehoben wird, so dass die Grundlage zur Wahrnehmung des Rechtes nicht mehr vorhanden ist. Manche sagen klug und einfach: Man soll sich nicht auf Ämter oder hohe Herren verlassen, sondern nur auf Gott und sich selbst. Das Vertrauen auf Versprechen macht abhängig, verletzbar und kann schädlich sein, wie zum Beispiel das Vertrauen auf Wahlversprechen, zwischenstaatliche Beistandsgarantien, manche Versicherungen oder das Recht, nicht an Staaten ausgeliefert zu werden, deren Justiz wie eine Meute Bluthunde hinter einem her ist. In dieser Situation befindet sich zur Zeit Julian Assange, der Gründer der Transparenzwebseite Wikileaks. Zunächst sitzt er noch in seiner Wartburg in der Botschaft Ecuadors in London. Aber die Schweden wollen ihn haben, wo er zu einen vermutlich fingierten Vergewaltigungsvorwurf aussagen soll. Er muss aber zu Recht befürchten, dass Amerika ihn entweder auf dem Weg nach Stockholm abfängt und Heim ins Reich der unbebgrenzten Möglichkeiten holt, wobei besonders die Möglichkeiten politischer Perfidie unbegrenzt sind. Siehe Bush, Rice, Rumsfeld und andere. Wenn Schweden die Garantie des freien Geleites geben würde sowie das Versprechen, Assange auch dann nicht an die Amerikaner auszuliefern, wenn ein derartiger Antrag (oder besser Befehl) vorliegt, dann KÖNNTE Assange nach Stockholm reisen, sagen, dass die Vorwürfe nicht stimmen, noch eine Kleinigkeit in der Gerichtskantine essen und wieder nach London reisen – oder gleich nach Ecuador, wo er ja Asyl garantiert bekommen hat.
Und da liegt das Problem: Alle beteiligten Seiten sind an ihre Garantien und Versprechen nicht unendlich lange gebunden. Und nur von Gnaden fremder Mächte leben zu dürfen, ist auch nicht wirklich erstrebenswert. Ich glaube, die beste Schutzmacht ist die Öffentlichkeit gemeinsam mit ihren medialen Kanälen. Das scheint mir doch im Sinne von Wikileaks zu sein. Die Organisation hat damit begonnen, die Straftatsvertuschungsbemühungen kriegsführender Mächte empfindlich zu stören, und zwar zu Recht. Nur deshalb ist Amerika so heiß darauf, Assange auf ewig von der Welt verschwinden zu lassen. Mit Bradley Manning, dem einzigen Soldaten, dem ich persönlich Mut bescheinigen würde für die militärische Leistung, geheime Dokumente weltweit öffentlich gemacht zu haben, haben sie ja schon begonnen. Bradley Manning hat die Freiheit verdient. Und deshalb kann das amerikanisch geführte Hokus-Pokus-Verschwindibus nur durch hinreichend Öffentlichkeit gestört werden. Die Europäische Union als frischgebackener Friedensnobelpreisträger könnte sich der ihr verliehenen Ehre würdig erweisen. Richtig nobel wäre es, sie würde den Preis mit Bradley Manning und Julian Assange teilen.