Rezension Mörder im Zug

 Helene Musfedder

Rezension „Mörder im Zug“

Sonntag, 09. Dezember 2012

Mimis kleine Bettlektüre, Folge 5: Der Zugbegleiter

Ich sitze im Regionalexpress RE 4308. Der fährt jetzt gleich los, und nach achteinhalb Stunden bin ich in Crimmitschau. Ich muss in Schwerin umsteigen. Nach knapp 13 Minuten Bahnsteigswechselgehetze geht es mit RE 37381 weiter bis Berlin-Hauptbahnhof. Von da geht es 18 Minuten später weiter. Die Hälfte der Zeit geht schon für den Weg drauf. Mein Freund hätte gelästert: „Wenn das schon MEINE Zeit ist, dann will ich auch bestimmen, wofür ich sie brauche“. Da habe ich zwar noch nie verstanden, aber irgendwie hat er Recht. Als ich mir die Fahrkarte gekauft hatte, musste ich lachen. Die kürzeste Verbindung, sagten sie am Schalter, geht über Hannover und Göttingen, und dann unten bei Weimar und Jena wieder in bekannte Gegenden. Ich stell mir gerade vor, ich hätte 1986 am Rostocker Hauptbahnhof gesagt: „Bitte einmal Crimmitschau, ermäßigt mit Studentenausweis, über Göttingen-Weimar-Jena“. Die Fahrt hätte ich wohl nie angetreten. Jetzt geben sie erst auf Nachfrage zu, dass man auch über Schwerin-Berlin-Leipzig nach Crimmitschau kommt. Ich muss dazu in Schwerin umsteigen, dann in Berlin Hauptbahnhof und dann noch mal in Leipzig. Berlin geht durch Spandau. Die reine Ostpassage von früher gibt es nicht mehr. Zum Glück gibt es zwischen Berlin und Leipzig ein Bordrestaurant, welches einen edlen Namen trägt, sonst aber alle Klischees zum Thema Mitropa erfüllt. Mich stört das ja nicht, weil es mich auch früher schon nicht gestört hat. Mich stört nur, dass es heute nichts Halbes und nichts Ganzes mehr gibt. Keine Mitropa mehr, und das Heutige alles Ander als gediegen. Aber ich habe ja einen Ostseekrimi aus dem Hinstorff-Verlag dabei. „Mörder im Zug“ ist von Frank Goyke und keine halbe Sache. Im Gegenteil. Der Krimi beginnt ebenfalls in einem Zug, und mir wird warm ums Herz, als ich mir die kalten Füße der Reisenden vorstelle. Es ist übrigens auch ein Regionalexpress. Das sind die Züge mit den ergonomisch unmöglichen Sitzplätzen. In solchen Zügen jammern die Bandscheiben lauter als die Bremsen quietschen. Die alten von der ostdeutschen Reichsbahn, die mit den mal grünen, mal roten Kunstlederbezügen, und mit Abteilen statt torpedoartigen Großraumgeschosswagen, die waren gemütlicher (außer im Sommer, wenn man wegen der Hitze am Leder kleben blieb, und im Winter, wenn die Heizung nicht ging). Jedenfalls lese ich. Und mir fallen sehr präzise Beschreibungen auf von Bahnstrecken, die ich auch kenne. „Priemerburg Süd“, bei Güstrow inner Ecke, zum Beispiel. Früher hab ich meinen Freund ab und an begleitet, wenn er auf dieser Leidensstrecke zurück in die Kaserne musste. Daher kennen wir beide die im Krimi beschriebene Trostlosigkeit, aber WIR wissen, wie wir sie ins Amüsante verwandelt haben. In „Mörder im Zug“ wird bei Ankunft des Zuges in Rostock eine Leiche entdeckt, der Mörder hingegen nicht, aber das dauert nur ein paar hundert Seiten, weil die gleichen Kommissare wie bei „Mörder im Gespensterwald“ ermitteln, und die sind gut. Man kann ja selten über Bullen sagen, dass sie gut sind; hier kann man es. Darum ist der Krimi gut. Es wird nicht ganz klar, welches von beiden der frühere ist, aber meine Tendenz geht zu „Mörder im Zug“ als früheren Krimi. Ausgesprochen gut ist die Beschreibung eines Schizophrenen. Der Autor macht sich keinen Augenblick lang über die Krankheit lustig und dramatisiert sie auch nicht unnötig. Aber WIE er sie beschreibt, befähigt auch nicht-schizophrene Menschen, sich das WAHRNEHMEN der Realität bei den Kranken vorzustellen. Das ist teils beklemmend, teils ist es Aufklärung, und alles mit dem nötigen Maß an Behutsamkeit. Das dann noch Rauschgifthandel, Osteuropamafia, Wirtschaftsbetrug, Netzwerke und Verflechtungen bei den Reichen auftauchen, die teils „die Schönen“ und teils „die bessere Gesellschaft“ heißen, ist ein schöner Beleg dafür, dass Frank Goyke ausgesprochen fein und präzise dramatisieren kann – und irgendwo hat er bestimmt auch einen Flakon mit Humor stehen, den sprüht er dezent über die Handlung.

Oh, ich muss Schluss machen. Eben künden sie an, dass wir in Kürze Crimmitschau erreichen. Bevor ich jetzt aussteige: Machen Sies gut, viel Spaß beim Lesen, und nächste Woche fahre ich nach Tötensen. Kennen Sie einen Satz mit drei Städtenamen? „Winsen Ham, Tötensen“.

 Frank Goyke, „Mörder im Zug“, Hinstorff-Verlag, Rostock, 2012

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