Rezension: Weichenstellungen. Berichte vom Nebengleis

REZENSION

 von Helene Musfedder

Herrgott & Danke

 Ich glaub, es fängt im Stillen ein Erzählstil an modern zu werden. Das schriftliche Erzählen wirkt neuerdings ähnlich beiläufig wie das gesprochene Erzählen. Mir fiel das an dem Buch „Weichenstellungen“ auf, einem Buch mit dem ergänzenden Titel: „Berichte vom Nebengleis“. Ich habe die Kommata des Buches nicht gezählt, aber ich habe das Gefühl, dass deren Zahl ein neuer Rekord in der Literatur ist. Wenn ja, liegt das an der Struktur der Sätze. Ellenlange Partizipialkonstruktionen mit thematischen und inhaltlichen Wendungen ziehen sich durch das ganze Buch. Michael Weller schreibt sie wie ein Mensch spricht, der in einem einzigen Satz seine gesamte Gedankenvielfalt auf einmal mitteilen möchte. Das ist anstrengend, banal und ungeheuer wichtig. Das Buch handelt im Grund davon, das einer möglichst wortgetreu aufschreibt, was ein anderer sagt. Und es zeigt sich: Nichts, aber auch gar nichts, was Menschen in ihrem Mitteilungsbedürfnis bewegt, deckt sich mit dem, was Politiker, Intellektuelle, Forscher und Prominente als Zeitgeist. Krise, drängende Aufgabe, Herausforderung für die kommenden Jahre oder sonstwie pathetisch als wichtig erachten. Die Kohlrabis im Kleingarten, die gesunde Geburt eines Fohlens und das der Nachbar nicht Hungern muss, weil das Geld bloß für einen halben Monat reicht, obwohl er sechs Wochen dafür gearbeitet hat, DAS bewegt Menschen, aber sie machen nicht so ein Gewese darum wie ein Fraktionschef um eine Koalitionsaussage. Wenn die Katze krank ist, ist es völlig unwichtig und vor allem gesellschaftlich irrelevant, ob ein Politiker sich im Ermüdungszustand unfein ausdrückt. Die Menschlichkeit ist wichtiger, und die zeigt sich auch am Umgang mit leidenden Haustieren.

Es ist an der Zeit, dass mal die kleinen Leute  geehrt werden. Wir sind doch wer, Herrgott & Danke, das kann man uns nicht nehmen, aber es tut gut, sich darauf zu besinnen. Wer sind wir denn? Waggons auf den Schienen, die man nach Belieben aufs Abstellgleis schieben kann oder ins Ausbesserungswerk? Ich will Euch mal was sagen: Nichts ist wichtiger und nichts hat mehr gesellschaftliche Relevanz als die ganz banalen Sorgen und Nöte der kleinen Leute.

(Michael Heller, “Weichenstellung. Berichte vom Nebengleis”, Format Publishing, Jena 2012)

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