Rezension: Gesundgevögelt

REZENSION

 von Emanuel Weinlaub

Die Untervögelungskrise“

 Sex ist ein Gesprächsthema. Die Größe eines Themas wird durch das Gefälle zwischen Bedarf und Erfüllung bestimmt. Ob im Zug, im Bus, auf Arbeit oder in der Stadt: Fast alle sind übersexed und untervögelt. Man sieht es ihnen auch an. Die dramatische Untervögelung breiter Teile der Gesellschaft hat Susanne Wendel zum Thema ihres Buches „Gesundgevögelt“ gemacht.

 cover rezi gesundgevögeltDie dramatische Untervögelung der Menschheit ist für normale Menschen das, was für Heuschrecken, Investoren, Spekulanten und Geldgeile aller Art die Banken-bzw. Wirtschaftskrise ist. Ähnlich wie die Banken-und Wirtschaftskrise Freiheiten und Möglichkeiten beschränkt sowie lustfeindliche Regelungen der Arbeitswelt und Vermögensverhältnisse hervorruft, hat die moderne Gesellschaft systematisch jegliche sinnliche Ausbildung in Sexualität unterbunden. Dabei wäre es ein Studienfach wie Kunstgeschichte, Klassische Erotik und praktische Dienstleistung. Und jeder würde es verstehen. Wo, außer auf dem Gebiet der Liebe, würden Hochschule und Allgemeinbildung ohne es zu bemerken besser zusammen passen? Wenn es denn Liebeslehrer und Liebeslehrerinnen gäbe und eine Gesellschaft, in der die Sinnlichkeit zum Idol der menschlichen Entwicklung gehörte. In antiken Gesellschaften gab es so etwas schon einmal. Seitdem ist viel Doppelmoral auf die Liebe geladen worden, aus der sie sich befreien muss. Yoga, Fitness, Jogging, Schwimmen: Alles nur Ersatz. Viel besser und schöner ist Ficken. So einfach soll es sein, so normal. Besonders Politiker sollten mit einem ausgeglichenen Liebesleben privilegiert sein, denn dann würde es weniger Kriege geben.

Soweit ist alles richtig in dem Buch, aber dann wird es falsch. Es passt nicht zusammen, dass das Buch kein Ratgeber sein soll, dann aber ständig ratgebende Anweisungen und Vorschriften macht, nur um am Ende zu sagen: Jeder muss selbst heraus finden, was gefällt. Die besten Kapitel sind die Interviews und Erfahrungsberichte. Im Allgemeinen hat man von Swingerclubs gehört, wüsste aber nicht, wie man sich dort angemessen benimmt. Der Buchbericht jedoch macht neugierig und Lust auf einen Besuch. Mir hat mal ein Freund einen Witz erzählt, der in einem Bordell handelte. Die Pointe funktionierte nicht, weil der Freund nie in einem Bordell war. Abläufe beschrieb er völlig falsch (Zahlungsablauf, Zulässigkeiten, Betriebsorganisation). So ähnlich muss es wohl sein, wenn Leute ohne Fantasie bewerten sollen, was sexuell erlaubt ist. Schön ist, dass man beim Lesen das Gefühl hat, es gibt einen Ausweg aus der Untervögelungskrise: Es kann die Befreiung der Liebenden nur das Werk der Liebe selbst sein. Liebe ist Service für den Partner. Das heißt für Frauen: Spaß haben. Das heißt für Männer: Spaß bereiten. Im Alter bereut man vermutlich die Sünden, die man NICHT begangen hat, rein sexuell-erotisch-oder beziehungsweise betrachtet. Die Befreiung der Liebe von ihren Hinderungsfesseln beginnt mit den Worten. Also weg mit der Bettdecke, Licht an, Balkontür auf und lasset die Liebesposaune erschallen.

Susanne Wendel, „Gesundgevögelt“, Horizonverlag 2012

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