REZENSION: Nur die Kogge war Zeuge

Rezension „Nur die Kogge war Zeuge“

„Kapitalverbrechen als Kollateralschaden“

(von Helene Musfedder)

 Der Morgen klopfte ans Fenster und rief, dass es Arbeit gäbe. Na dann, sagte ich und schwang mich aus dem Bett. Da klingelte es. Der schnucklige Volontär war draußen. „Ich soll Ihnen das hier geben“, stammelte er mit rotem Kopf. Seltsam, dachte ich, wie mag wohl sein natürlicher Teint aussehen? ich machte das Päckchen auf und fand darin einen Ostseekrimi aus dem Hinstorff-Verlag. „Willste einen Kaffee?“, fragte ich den Volli. Der zeigte auf seine rotglühenden Ohren und lehnte bedauernd ab. Da ging ich mit dem Krimi zum Leselümmelsessel, hing das Schild „Reserviert bis Arbeitsabschluss“ hinten an die Lehne und hoffte, mein Freund würde das, wie immer, respektieren. Ich nahm mir das Buch, einen Schreibblock und was zum Schreiben. Vollkonzentriert begann ich. Die allgemeine Kriminalität der letzten Wochen und Monate hatten mich sowieso schon in gespannten Zustand versetzt. Darum rezensierte ich ja nicht nur literarische Krimis, sondern sammelte auch Informationen über Arzneimittelbetrug, Abrechnungsschummel von Fernwärmelieferanten und sonstigen kriminellen Fällen, deren Motiv reine Profitgier ist. Hinsichtlich des Motivs passt „Nur die Kogge war Zeuge“ ins allgemeine kriminelle Milieu wie der Arsch eines Bikers auf den Sattel seiner Harley. Hinsichtlich des Stils psychologisiert der Krimi wie Alfred Döblin in Berlin-Alexanderplatz. In Birgit Lohmeyers Koggen-Drama zu Wismar, wo als touristisch-gewerbliche Attraktion der Nachbau einer Hansekogge am Kai liegt, beginnt die Psychologie mit der Angewohnheit eines Mannes, der 11 Jahre im Gefängnis war und dort zur Belustigung der Wärter beim Hofgang barfuß ging, um das Fühlen der Tastkörper in den Fußsohlen beim Bodenkontakt mit der freien natur nicht zu verlernen. Sinne können wirklich sehr schnell verkümmern. Wenn man nicht höllisch auf sich acht gibt, verkümmern die Sinne eines Hartz-Vier-Opfers innerhalb eines Monats ganz beträchtlich. Und in diesem Krimi kämpfte einer nicht nur einen Monat gegen das Verkümmern der Sinne, sondern 132. Draußen schließt er sich einer Gruppe von Jagdgegnern an, die aus Gründen des Umweltschutzes und des Tierschutzes Hochsitze ansägen. Bei einer Sägeaktion liegt ein toter im Wald. Trotzdem wimmelt der Krimi nicht von dutzenden Polizisten, denen Autoren dann erfundene Polizeislangdialoge in die Münder legen wie sonst üblich. Hier in diesem Krimi geschieht die Wahrnehmung des Mordes in der Öffentlichkeit beinahe wie im echten Leben. In der Zeitung steht eine Notiz von einem Verbrechen, aber der Alltag der Menschen geht weiter. In Echt sieht niemand die Polizei beim Ermitteln – wozu also soll dann Ermittlungsarbeit in einem Krimi beschrieben werden? Tratsch und Eigendynamik der Stimmen aus der Öffentlichkeit bringen die Handlung auch so voran – zumal der aus anderen Lohmeyer-Krimis schon bekannte Bewährungshelfer Weller wieder mit von der Partie ist und sich um den Entlassenden vom Handlungsanfang zu kümmern. Als am Ende der Mordtäter bekannt wird, fragt man sich unwillkürlich, was das für eine Zeit geworden ist, in der Kapitalverbrechen nur noch Kollateralschäden der Profitgier sind.

(Birgit Lohmeyer, „Nur die Kogge war Zeuge“, Hinstorff, Rostock 2015)

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