FEUILLETON-REZENSION: Journalistische Genres

Feuilleton-Rezension

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 „Bote, Herold und Reporter“

19-06-2016 cover rezi journalistische genres

Vor acht Jahren:

„Eines Tages wird es keinen Journalismus mehr geben. Dann werden Redaktionen nur noch Abdruckbüros für Texte und Informationen sein. Recherche wird es dann auch nicht mehr geben. Denn wer muss noch Informationen sammeln, bewerten und überprüfen, wenn das zu Schreibende von den Presse-und Informationsstäben von Konzernen und Behörden vorgegeben wird? Außerdem braucht man dafür keine unabhängigen Schreiber mehr. Die Zukunft Eurer Branche beginnt mit dem Tod des investigativen Journalismus und der Reduktion der Zeitungen auf die Funktion eines amtlichen Mitteilungsblattes. Kein Gehalt mehr, und ihr schreibt um leben zu können, jeden Scheiß“, sagte vor 8 Jahren ein Bekannter, der eigentlich ein gebildeter Mensch mit der Neigung zur empirischen Überprüfung von Informationen ist. „Niemals“, widersprach ich voller Überzeugung, und meine Stimme vibrierte pathetisch wie die von Charles de Gaulle, wenn er „La France“ sagte.

Seit 2014 bin ich davon nicht mehr überzeugt. Seit 2014 möchte ich beinahe sagen, dass aus Blogs, Treppenhaustratsch und Marktplatzgerüchten eine Art „Volksnachrichtendienst“ entstehen kann, soll und müsste.

Wenn dieser „Volksnachrichtendienst“ einmal als Mitspieler in Informationsbeschaffung, Verarbeitung und Verbreitung wahrgenommen wird, dann spielt sich seine Betätigung zwischen Spurenlesen und Datenanalyse ab. Dieser Journalismus sammelt Daten über Datensammler von Tunnel 38 bis Werbewirtschaft. Er zieht solchen Leuten die Hosen runter, die das Volk der kleinen Leute zum gläsernen Bürger machen. Im Idealfall erreicht der Volksnachrichtendienst den Ausgleichstreffer zum Gleichstand. Noch ist es nicht so weit. Aber seit sich der Verdacht bestätigt, dass Journalismus erst dann wieder geistig wirksam und eine ernst zu nehmende Betätigung ist, wenn sich Formen des Schreibens und Erzählens sowie Methoden der Informationsgewinnung und Aufbereitung an die Steilvorlagen der Dateneliten anpassen, ist Bewegung und Unruhe vom kleinsten Autor bis zum größten Medienboss zu spüren. Die Lust auf Journalismus bekommt einen Schub durch die Klärung der Sinnfrage. Man muss ab sofort wieder damit rechnen, dass die üblichen Akteure keine Formulierungshoheit mehr besitzen. Die Elite wird wieder in der ständigen Ungewissheit leben, ob manches nicht doch auch ungewollt rauskommt. Bisher konnte man bei allen Enthüllungen immer resigniert sagen: Es kommt nur raus, was rauskommen soll.

Blogtechnik und ihr großer Haken.

Das Internet und die relativ einfache Publikationsmöglichkeit für Texte, die freie Autoren kaum noch in konventionellen Medien gegen Bezahlung unterbringen können ist Ansporn und Verpflichtung, neue oder andere Publikationsformen zu probieren. Die Sache hat nur einen Haken: Blogbetreiber sind der Technik ausgeliefert. So schnell man seine eigene Zeitung entwickeln und publizieren kann, so schnell kann diese auch mit juristischen und technischen Mitteln „dichtgemacht“ werden. Mir ist dafür zwar kein Fall bekannt, ich habe aber gehört, dass vielen Bloggern hin und wieder die Sache mit Damokles und dem Schwert in den Sinn kommt. Die Geschichte ging in drei Sätzen so: Damokles konnte zwar Literatur schreiben, aber nur solange der Tyrann es duldete. Der Tyrann verdeutlichte die Duldung, indem er ein Schwert an einem leicht reißenden Pferdeschweifhaar über Damokles schwingen ließ. Damokles ahnte genau, was ihm beim Reißen des Haares das Schwert antun könnte. Im Idealfall könnte eine Kombination aus Blogzeitung und ihrer Printausgabe eine spannende Erweiterung der Informationsverbreitung sein. Man kann zum Beispiel täglich Themen und Geschichten veröffentlichen und die wichtigsten dann per Newsletter an regelmäßige Leser schicken. Wenn diese Newsletter gestalterisch wie eine Zeitung aussehen, können sie nach Bedarf ausgedruckt, geheftet, gelesen, verteilt, diskutiert und archiviert werden. Vorne lebt die Blogzeitung davon, was ihr Herausgeber in sie hinein gibt und hinten davon, wie sie bei den Empfängern ankommt. Im Idealfall kann nicht einmal die Nahrungsmittelindustrie presserechtlich gegen kritische Artikel über die Nahrungsmittelindustrie vorgehen – und auch sonst keiner, der ein Interesse an der Unterschlagung von Informationen hat, die die Öffentlichkeit etwas angehen. Was ein Blogherausgeber vorne in sein Blog hinein tut, hängt in hohem Maße davon ab, wie er aus herkömmlichen journalistischen Darstellungsformen zeitgemäße und zum Thema passende Textarten schreibt und dazu genau die Mittel der Informationsbeschaffung und Informationsauswertung benutzt und trainiert, die sonst nur in Herrschaftswissen münden.

Freiberufliche Blogjournalisten stehen seit Jahren auf ziemlich einsamen publizistischen Posten. In dieser Situation hat der Deutsche Fachjournalistenverband (DFJV) das rund 422 Seiten starke Buch „Journalistische Genres“ herausgegeben. Etwa 30 Autoren haben zirka 35 Attribute vor das Wort Journalismus gesetzt und dabei die Vielfalt der journalistischen Darstellungsformen von Nachricht-Kommentar-Bericht-Reportage-Interview-Glosse-Rezension erweitert wie eine sich öffnende Samenkapsel einer Feldblume. Zum Teil ist das nur möglich geworden, weil Opfer von Redaktionsausdünnung und Honorarkürzung ihr unveröffentlichtes Zeug in Blogs veröffentlichten. Schreibtagelöhner und Textdiscounter konnten ohne redaktionelle Streichorgien Fontane und Feuilleton, Hemingway und Hauptnachrichten, DAX und Duck und was sich sonst so anbot miteinander kombinieren und eigenen Stilarten entwickeln. Das nun vorliegende Buch ist eine Bestätigung dafür, dass journalistisches Neuland unterm Pflug der Freiberufler zu guten publizistischen Früchten führte. Das Buch kann eine Wende auf dem journalistischen Arbeitsmarkt bedeuten. Der Deutsche Fachjournalistenverband kam nämlich mit der Stärke seiner 30 Autoren den bedrängten Freiberuflern zu Hilfe wie die Preußen unter Gebhard Leberecht von Blücher als Arthur Wellesley Herzog von Wellington im Juni 1815 bei Waterloo klagend rief: „Ich wollte es wäre Nacht oder Die Preußen kommen“. Und die Kombattanten des Herzogs kannten mit den Truppen des Feldmarschalls nur ein Ziel: Napoleons Hosenboden. Und den zogen sie dem Korsen gehörig stramm.

Die 35 Attribute des zeitgemäßen Journalismus.

Jahrelang wurde Nachwuchsjournalisten eingetrichtert, man dürfe sich mit keiner Sache gemein machen, selbst wenn es eine gute Sache wäre, für die man Partei ergreifen sollte. Viel wichtiger als die Stellungnahme für eine edle Sache sei die objektive Berichterstattung darüber. Objektivität sei für die Berichterstattung oberstes Gebot. Wie alle oberste Gebote ist das Gebot der Objektivität im Journalismus überhaupt nicht einzuhalten. Fürgendwen ergreift man immer Partei. Ansonsten schreibt man einen seelenlosen Text, der keinen Leser anspricht. Leser erwarten ja Antworten. Meist haben sie an diese Antworten schon eine inhaltliche Erwartung. Sie erwarten daher, dass der Autor die Leser in ihren Ahnungen bestätigt. Den Parteiergreifenden Journalismus nannten die Autoren der Einfachheit halber anwaltlichen Journalismus, weil der Begriff bei den Amerikanern Advokacy Journalism heißt. Journalisten als Anwälte. Fürsprecher, Helfer und Berater, Schlichter und Vermittler ist ein sehr edler Berufsanspruch. Ähnlich prägen die Autoren noch weitere Begriffe, deren Attribute dendie jeweilige journalistische Grundform näher bestimmen. Zählt man sie in dem Buch durch, kommt man auf 35 Attribute des zeitgemäßen Journalismus. Sie entdecken neben dem anwaltlichen Journalismus den Gedenkenden Journalismus, der anhand geschichtlicher Parallelen über aktuelle Gefahren in Politik und Zeitgeschichtge schreibt. Hier zählen sie den historischen Rückblick auf 1914, um die Kriegsgefahren seit 2014 zu beschreiben, und hierzu zählen auch immer wieder die Vergleiche mit der Weimarer Republik, um vor den Gefahren eines erneut aufkommenden Faschismusses in Deutschland und Europa zu warnen. Sie erwähnen einen unternehmerischen Journalismus und einen Innovationsjournalismus. Beim unternehmerischen Journalismus „schnüffelt“ ein Reporter wie ein Privatdetektiv im Dunstkreis eines Ereignisses, bis er die Geschichte ohne Vorgaben einer offiziellen Pressestelle oder PR-Abteilung erzählen kann. Für Friedensforscher, Konfliktmanager und Kriegsberichterstatter gleichermaßen interessant ist das Tätigkeitsfeld des Friedensjournalismus.

Richtig wertvoll wird das Buch, weil es die journalistischen Genres nach dieser thematischen Differenzierung auch noch mal nach den dafür angewendeten Recherchemethoden differenziert. Diese reichen von Schmutzmethoden wie Überfalljournalismus, von zweifelhaften Methoden wie Checkbuchjournalismus bis zu der höchstinteressant klingen Methode des Big-Data-Journalismus. Datenjournalismus bedeutet im Grunde nur eins: Herauszufinden, was Unternehmen und Behörden mit den gesammelten Daten über die Bürger herausfinden kann und was man als Journalist durch Datensammeln über verheimlichte Absichten herausfinden kann. Die Geräusche von Kriegsflugzeugen lassen sich nicht verheimlichen, aber bedeuten sie Manöver, Ausbildung oder schon einen verdeckten Aufmarsch am Ostrand des Nordatlantischen Sicherheitsbündnisses NATO?

Hoffnung nach Redaktionsausdünnung und Honorarkürzung.

Das Buch über die zeitgemäßen journalistischen Genres zeigt auf, dass es für Journalisten wieder viel zu tun gibt. Fachleute gibt es genug, und die Themenvielfalt wird wieder größer. Wirtschaftsnachrichten alleine sind nicht mehr die einzige Attraktion für Anzeigen und Inserate. Auch bei reinen Technikthemen gibt es zunehmend Horizonterweiterungen von „Freaks“ und „Nerds“ sowie „Whats-Abbhängigen“, wenn das Wortspiel mit Whats App und Ab-hängig erlaubt ist.

„Journalistische Genres“ ist ein Fachbuch für Autoren und Leser gleichermaßen. Es zeigt, dass beide an dem Punkt sind, wo sie einander brauchen. Leser werden Auftraggeber und Autoren Informationsdienstleister. Schon bald kann auch ein lohntransferunabhängiges bescheidenes Einkommensniveau entstehen.

(Deutscher Fachjournalistenverband, Hrsg., „Journalistische Genres“, UVK Verlagsgesellschaft Konstanz und München, 2016. ISBN:978-3-86764-682-6 bzw. 978-3-7398-0048-6 EPDF)

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