Rezension
Jürgen Wagner: „NATO-Aufmarsch gegen Russland oder Wie ein neuer kalter Krieg entfacht wird“
„Der Neoliberalismus bringt seine Räubertruppen in Stellung“
Selbst ohne ein Militärbeobachter, Reservestabsoffizier oder sicherheitspolitischer Analytiker zu sein, konnten auch militärisch nicht ausgebildete oder interessierte Menschen Anzeichen dafür sehen, dass die Mitglieder der NATO in viel größerem Maße gegen die relativ gewaltfreie Stabilität des Friedens in Europa stänkern als Russland, welches im Idealfall der Vorstellungen der meisten Menschen ein Märchenland weit im Osten ist. Der einzige Kratzer auf dem Hochglanzbild des Märchenlandes ist seine reale Anwesenheit in den Ländern des Warschauer Vertrages. Russland ist weder das Märchenland seiner Literatur noch der Gräuelbär, als der sich sein Besatzungsregime im Ostblock in der öffentlichen Wahrnehmung eingeprägt hat.
Man musste 1990 kein Experte sein, um eine Militarisierung der Außenpolitik, eine „Deregulierung“ genannte Phase des Sozialabbaus und der Schaffung von Niedriglohnsektoren und eine immer schwierigere Rückkehr in Arbeits-und Lohnbezugswelten festzustellen. Die Frage nach dem Sinn ließ sich 1990 bestenfalls mit Verschwörungstheorien beantworten. Seit der Flüchtlingsabwehr der Grenzschutzagentur „Frontex“ im Mittelmeer, den vielfältigen „Antiterrorkriegen“ in der Welt und der dadurch wiederum zunehmenden Anzahl von Menschen auf der Flucht, die ihr Heil in der Europäischen Union suchen, kann man zumindest ahnen, dass die einzige Erklärung für alles dieses in der Vorbereitung des dritten globalen Krieges seit 1914 ist. Viele Publikationen sind seit Terrorkriegen, neoliberalem globalem Sozialabbau und existenziellen und den existentiellen Bedrohungen Klimawandel, Wassermangel und unbezahlbar werdende Gesundheitsfürsorge erschienen. Jürgen Wagners Buch „NATO-Aufmarsch gegen Russland oder Wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird“ beginnt mit einem neuen, aber nicht wirklich überraschendem Blick auf die neoliberale „Wirtschaftsordnung“ und die Deutung des „Freihandelsabkommens“ TTIP zwischen Amerika und der Europäischen Union als Teil einer gigantischen globalen Kriegsvorbereitung.
Der erste große Test des Einsatzes der NATO als Angriffsbündnis statt als Verteidigungsbündnis war für den Autor die Beteiligung am Bürgerkrieg in Jugoslawien. Der Krieg auf dem Balkan und die vielen Versuche von Waffenstillstandsverhandlungen bzw. Friedensverhandlungen bezeichent Wagner übereinstimmend mit der Zeitgeschichtsschreibung als „Neoliberale Eroberung der Südostflanke“.
Wagner kommt auf drei Motive, die einen hinreichenden Tatverdacht für einen kriegsvorbereitenden Kurs der NATO begründen:
Erstes Motiv: Ziel des NATO-Einsatzes in Kosovo war es, einen Angriffskrieg zu üben, ohne vom VETO-Recht Russlands und Chinas im UNO-Sicherheitsrat daran gehindert zu werden. Wagner zitiert dazu eine Aussage des Bundeswehrgenerals Klaus Naumann:
„Wir haben ihnen während des Kosovokrieges gezeigt, dass sie keine Chance haben, Interventionen der NATO durch ein Veto Russlands zu behindern. Und ich hoffe, Moskau hat das verstanden.“ (Seite 31)
Klaus Naumann war der General, der als Generalsinspekteur der Bundeswehr Deutschland als „kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen“ bezeichnete, die hauptsächlich im „Krisenbogen von Marokko bis Indonesien“ durchzusetzen seien. (Ausdrücke in Klammern sind zitierende Wiedergaben von Originaläußerungen des Generals)
Zweites Motiv: Der NATO fehlte an der Südostseite ihres Bündnisgebietes. Dort wollte sie sein, um ihren Lieblingsfeind Russland zu umklammern wie eine Anakonda ein Wildschwein oder einen Wasserbüffel. Über die Erweiterung des NATO-Bündnisgebietes zitiert Wagner einen Dozenten der Bundeswehr-Stabsakademie in Hamburg. Der sagt Wagner zufolge:
„Durch eine Beseitigung des jugoslawischen Riegels wird die Ausdehnung des europäischen Geltungsbereiches der NATO erleichtert, wodurch sich die direkte Einflusssphäre der USA erweitern würde.“ (Seite 32)
Heißt: Jugoslawien liegt für militärische geoppolitische Ziele – also für Kriege – gegen Russland im Weg, wenn man von Süden kommt, was aber naheliegt, wenn Jugosllawien der einzige Abschnitt ist, um den südlichen Bogen zu schließen. Also um Russland einzukesseln. Daher musste Jugoslwawien nach Ansicht der Kesselflicker von der NATO zielführend destabilisiert werden, woraus sich das dritte Motiv für den Jugoslwawienkrieg ergibt:
Drittes Motiv: Der NATO-Angriff auf Jugoslawien war möglicherweise ein „Pilotprojekt“, so ähnlich wie Spanien 1936 als Testfall für den zweiten Weltkrieg gilt. Wagner zitiert hierzu als Zeugen einen ehemaligen amerikanischen Vizeaußenminister namens Strobe Talbott:
„Während die Länder überall in der Region ihre Volkswirtschaften zu reformieren, ethnische Spannungen abzubauen und die Zivilgesellschaft zu stärken versuchen, schien Belgrad Freude daran zu haben, beständig in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Der Widerstand Jugoslawiens gegen den umfassenden Trend zu politischen und wirtschaftlichen Reformen bietet die beste Erklärung für den Krieg der NATO.“ (Seite 32)
Wenn man nun unter „Reformen“ die neoliberale Profitgier samt gnadenlosem Verdrängungswettbewerb in Tateinheit mit Sozialabbau versteht, dann wird Wagners Motivdarlegung einigermaßen klar. Wagner versäumt auch nicht, bezüglich des Zusammenhangs zwischen Neoliberalismus und Krieg auf das Buch „Das Ende der Geschichte“ des früheren amerikanischen Sicherheitsberaters Francis Fukuyama zu verweisen. Der schrieb 1990, mit dem Ende des von der Sowjetunion dominierten Machtbereiches sei das „Ziel der Geschichte“ erreicht. Es werde von nun an keinen Krieg mehr geben, „höchstens ein paar kleine Scharmützel, die der wirtschaflichen und politischen Verteidigung des Westens“ dienen. Das Buch wurde schon 1990 bei sehr hellwachen Lesern als programmatische Ankündigung von eben jenem großen globalen Krieg gesehen, dessen Gefahr seit 2016 ziemlich deutlich geworden ist.
Erst gegen Ende des Buches auf den Seiten 184 bis 187 greift Wagner seine Anfangsdeutung des Freihandelsabkommens TTIP als Wirtschaftswaffen im Rahmen der von neoliberalen Politikvorgaben geprägten NATO-Strategie. Neoliberale politische Denkfabriken – Wagner nennt sie an dieser Stelle nicht einzeln oder mit Namen – bezeichnen daher das Freihandelsabkommen als „Wirtschafts-NATO“. Für Leser mit einem Faible für historische Parallelen mag dies wie der „Generalplan Ost“ des nationalsozialistischen Deutschlands klingen, mit dem die besetzten oder zu besetzenden Gebiete im Osten wirtschaftlich den Erfordernissen der deutschen Kriegswirtschaft und dem Profitinteresse deutscher Konzerne unterstellt werden sollten.
Wagner schreibt:
„So kommt eine Untersuchung zu den geopolitischen Auswirkungen und Zielsetzungen des Abkommens zu dem Ergebnis, es gehe ganz allgemein um die Neuformierung und Stärkung des westlichen Machtblocks gegen Rivalen wie China und Russland. und ganz besonders darum, neoliberale globale Standards zu setzen und zu stärken, um so das eigne Ordnungsmodell gegenüber dem angeblich grassierenden Staatskapitalismus besser in Stellung zu bringen.“ (Seite 184-187).
Neoliberale Standard sind die, die in Deutschland zu Hartz Vier, Niedriglohnsektor, Altersarmut, Afd und Pegida sowie einem zerstörerischen Konkurrenzdruck im Gesundheitswesen oft z Lasten der Patienten geführt haben. Übrigens ist der Unterschied zwischen Neoliberal und Staatskapitalistisch der Anteil der Staatsquote am Besitz von Unternehmen. Neoliberalismus hat das Ziel der totalen Privatisierung alles wirtschaftlichen Ressourcen, inklusive Natur, Wasser, saubere Luft. Staatskapitalismus hält immerhin noch wichtige gesellschaftlich wichtige Bereiche der Wirtschaft verstaatlicht. Im Prinzip gehören dazu die kommunalen Einrichtungen, die ohne Profitmaximierung den Bürgern erträgliche Lebenshaltungskosten gewähren könnten.
Und wenn man das alles gelesen hat – und man sollte es trotz einiger Holprigkeiten des Textes tun – scheint es so auszusehen: Die Machteliten bringen alle Ressourcen in Stellung für einen geplanten Krieg, von dem sie bereits jetzt schon mehr wissen, als sie vor den einfachen Menschen verschweigen.
(Jürgen Wagner, „NATO-Aufmarsch gegen Russland oder Wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird.“, edition berolina, Berlin 2016)