FEUILLETON-REZENSION: Armutsbericht 2016/17

Rezension

„Armutsbericht 2016/17“

„Wie man mit Mathetricks die Armut schönrechnet“

Aufwendige Sichtvernebelung
Armut ist schon für sich genommen kein Grund zum Jubel. Sozialpolitik sollte daher grundsätzlich notlindernden Charakter haben. Denn weil Reichtum kein Verdienst ist, ist Armut keine Schuld. Die neoliberale Sozialpolitik Deutschlands (NLSPD) hat aber mit der Agenda 2010 und der Hartz-Vier-Gesetzgebung die Sozialpolitik mit einem Katalog von Sanktionen und Schikanen zu einem als Strafgesetz empfundenen Monster gemacht, welches zumindest in einem Punkt regelmäßig gegen das Grundgesetz der BRD verstößt, nämlich im Punkt 1, der den Grundsatz der Menschenwürde enthält. 10 Jahre nach der Einführung von Hartz Vier sagen die Nutznießer: „die Arbeitsmarktreform hat sich bewährt“ und die Opfer sagen: „die Kinder lernen schon nichts anderes als Hartz Vier mehr.“ Sie sagen es noch mit vielen anderen Worten. Aber alles ist nicht zitierfähig und es würde wohl auch niemandem helfen, weißgestrichene Türen in weißgestrichenen Stahlbetonbunkerwänden zu suchen, indem man mit dem Kopf dagegen klopft. Die Planungen für Hartz Vier liefen von 2003 bis Ende 2004. Am ersten Januar fiel die Tür hinter sieben Millionen Ausgegrenzten zu. Sie haben planmäßig gewollt keine Chance mehr, in normale Arbeitswelten zurück zu kehren, denn schon damals sage Franz Müntefering:
„Eine gewisse Sockelarbeitslosigkeit von drei bis fünf Prozent wird bleiben“
Nach dem jetzigen Stand der Entwicklung war das die geplante Ausschlussquote, die nie wieder eine Chance auf Arbeit und Einkommen haben sollten. Wie also kommt es, dass die Täter über das „Greifen der Arbeitsmarktreformen“ jubeln, aber die Armut das Fundament des neoliberalen Gesellschaftsgebäudes bleibt? Ist der Begründungsbegriff „Wettbewerbsfähigkeit“ eigentlich logisch oder gelogen? Ist die Wettbewerbsfähigkeit nämlich logisch, dann kann eine Gesellschaft nicht einfach diejenigen Menschen aussschließen, die für die Wettbewerbsfähigkeit bebraucht werden, und das sind ALLE. Auch die „Auswechselspieler“, die im Idealfall nur zeitweilig auf der Ersatzbank sitzen, aber jederzeit wieder in den Wettbewerbskampf eingegliedert werden können, sind Teil einer logischen Wettbewerbsfähigkeit. Dann wäre Wettbewerbsfähigkeit so etwas wie die Schwimmfähigkeit eines Bootes, die von jedem Besatzungsmitglied abhängt. Eine Gesellschaft aber geht nicht unter, wenn sie nicht jeden mörderischen Wettbewerb mitmacht. Oder aber es geht gar nicht um den Wettbewerb, dann geht es auch nicht um die Menschen, dann geht es um die Reduzierung der Bevölkerung durch „Sozialverträgliches Frühableben“. Diesen Ausdruck benutzte die Politik bereits öffentlich. 1998 nämlich gab es folgenden Satz in der Öffentlichkeit:

„Dann müssen die Patienten mit weniger Leistung zufrieden sein, und wir müssen insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen.“

Der ihn sprach, hieß Karsten Vilmar und war Ärztekammerpräsident. Was er meinte, war eine Reduzierung der medizinischen Leistungen für Ältere, wenn das Gesundheitswesen durch notwendige Leistungen seine Kosten nicht bezahlt bekäme.

Drei Rechenmodelle, aber die Tendenz bleibt
Seit 2001 befasst sich der Paritätische Wohlfahrtsverband mit dem soziologischen Untersuchungsgegenstand „Armut“. Jährlich gibt der Verband einen Armutsbericht heraus. Im Armutsbericht 2016 stellen die Herausgeber selbstkritisch
fest:

„Wir haben als Autoren und Herausgeber zuletzt auf offenbar notwendige Herleitungen, Begründungen oder Erläuterungen fast gänzlich verzichtet. Dies betraf den Armutsbegriff, die Berechnung der Armutsquoten, die kaufkraftbereinigten Armutsquoten, die Grenzen der Statistik und Ähnliches mehr.“ (Seite 1)

Auf Seite 9 des 2016er Berichts versuchen die Autoren, das ihnen Mögliche zu tun, um Begriffe zu erklären, die jeder kennen sollte, wenn er die dazu gehörenden Zahlen verstehen will.
Erstens:
Wenn von Armut in dem Bericht geschrieben wird, ist ímmer eine relative Armut in Bezug auf einen rein rechnerischen fiktiven Vergleichswert gemeint. Absolute Armut wäre hingegen Obdachlosigkeit und Nahrungsmangel, also „Hungern im Freien mit Lumpen auf dem kranken Leib.“
Zweitens:
Regierungsstellen neigen dazu, die Zahl der von Armut betroffenen Menschen kleiner zu rechnen als sie ist. Wohlfahrtsverbände geben diese Zahl gewöhnlich mit einem höheren Wert an. Beide haben dennoch Recht, denn die Rechenergebnisse hängen lediglich von der Berechnungsmnethode der Armutsquoten ab. Aber beide benutzen verwirrend für die Öffentlichkeit denselben Begriff ohne auf die Rechenmethodik einzugehen.
Drittens:
Statt mit realen Einkommen wird mit „Äqivalenzeinkommen“ gerechnet. Die Rechnung geht so: Eine Vierköpfige Familie hat 4000 Euro. Theoretisch 1000 pro Nase. Das ist arm, wenn andere 40 bis 60 Prozent mehr haben. Daher wird nicht durch vier geteilt, sondern durch die Summe der Äqivalenzwerte, welche 1,0 für das familienoberhaupt, 0,5 für seine Gattin, 0,5 für Kinder über vierzehn und 0,3 für Kinder darunter betragen. Bei zwei zwölfjährigen Kindern kommt 2,1 raus und damit ein Einkommen von 1905 Euro. Der Sinn bleibt dunkel. Denn wessen Vorteil, wessen Nachteil resultiert aus dieser künstlichen Armutsrechnung? Und warum kann man sie nicht korrekt erfassen?
Viertens:
Als Einkommensdurchschnitt wird der sogenannte Merian benutzt. Da nimmt man die Einkommen einer Region und bildet aus allen insgesamt den Durchschnittswert. Dabei können einzelne Haushalte immer tiefer in die Armut sinken, aber insgesamt bleibt das Wohnviertel konstant wohlhabend, weil die höheren Einkommen den Durchschnitt halten. Wie soll man da auf präzise Unterscheidungen zwischen arm und reich kommen?
Fünftens:
Extra zur Berechnung des Regelsatzes von Hartz-Vier-Leistungen wurde das Statistikmodell erfunden. Dieses Modell hält soviel Geld für angemessen, wie betroffene Haushalte in der Regel ausgeben, wobei sie nur das ausgeben können, was sie bekommen und daher ihr Geld immer nur für bestimmte Warengruppen oder Dienstleistungsgruppen ausgeben können. Soziale Kontakte, Kultur, Gerätereparaturen und Ähnliches werden nie in der anfallenden Höhe berücksichtigt. Überspitzt ausgedrückt: Wenn die Mehrheit raucht und trinkt, gelten Kultur und Bildung nicht zu den lebenserhaltenden Ausgaben. Sie sind schlicht Luxus. Die Folge ist die bewusste und geplante geistige, soziale und kulturelle Aushungerung der Menschen.
Einen objektiven Sinn kann man darin nicht entdecken. Und der 2017er Armutsbericht sagt: Aktuell sind 15,7 Prozent der Haushalte arm. Alle Armutsrisikogruppen sind betroffen: Erwerbslose, Alleinerzieher,kinderreiche Familien, gering Qualifizierte, Ausländer und Rentner.
Und nicht die Risikogruppen sind an ihrer gegenseitigen Lageverschlechterung schuld. Unabhängig von Schuld oder Zufall empfiehlt der paritätische Wohlfahrtsverband einen „rigorosen Kurswechsel in der Steuer-und Finanzpolitik“. Heißt: In der Steuerbelastung und in der Verteilung von
sozialen Leistungen zum Wohle der von der Armut Betroffenen.
Wahrscheinlich wäre es schon gut, wenn man den Menschen zusätzlich zu ihren Bedürfnissen auch noch liquide Mittel ließe, damit jeder Haushalt ein Stück weit sein eigenes Sozialamt sein kann.

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