FEUILLETON-REZENSION: Das gespaltene Land

FEUILLETON-REZENSION
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Rezension „Das gespaltene Land“

„Statt Arbeit Job, statt Betrieb Geschäftsmodell“

Ungeordnete Wahrnehmungen.
Früher gab es Arbeitsplätze, heute gibt es Jobs. Früher gab es Betriebe, heute gibt es Geschäftsmodelle. Die Art zu arbeiten und die Art, seinen Lebensunterhalt zu sichern, haben sich zum Wohle Weniger auf Kosten Vieler geändert. Früher ging man arbeiten, um für sich und die Familie zu sorgen. Am Ende grüßte verheißungsvoll eine Rente für den Lebensabend. Heute geht man arbeiten, um überhaupt auch nur sozialversichert zu sein. Und selbst die Sozialversicherungspflicht wird durch Ausnahmen ausgehöhlt, die die Arbeitgeber per Niedrigstlohnsektor von der Pflicht zur Zahlung von Sozialabgaben „befreien“. Die Befreiung der Arbeitgeber von den Sozialabgaben für die Beschäftigten ist zugleich auch die Versklavung derjenigen, die durch abgabenbefreite Löhne nicht mehr in die Rentenkasse einzahlen und daher am Ende auch mit leerer Schüssel am Rententopf stehen.
Minijobber, Gelegenheitsjobber, Arbeitslose, Abgeschriebene, Hartz-Vier-Opfer, Armutsrentner und Bildungsbetrogene bringen die Erscheinungsformen der Spaltung der Gesellschaft genauso umfassend zusammen wie die gelehrten Analysten der gesellschaftlichen Unordnung. Die Wahrnehmungen der Armen und die Darstellung der Wahrnehmung durch die Gelehrten unterscheiden sich nur durch die Zusammenhänge, die beide zwischen den Wahrnehmungen herstellen. Migration zum Beispiel hat nichts mit Hartz Vier zu tun, aber Neoliberalismus mit Krieg, Flucht und Vertreibung. Solch ein weites Feld müsste beackert werden, wenn man einigermaßen sauber hergeleitete ursächliche Zusammenhänge zeigen möchte. Und selbst diese würden unvollständig bleiben. Denn Armut gibt es nicht erst seit dem neoliberalen Sozialfaschismus, der mit der Globalisierung zunehmend in die Arbeitswelten und das Sozialgefüge jeder Gesellschaft eingedrungen ist.
Die Verknüpfung von Armutswahrnehmungen mit Erklärungsversuchen ist bislang trotz zunehmender Menge an Fachliteratur zum Thema Armut chaotisch und nicht immer kausal hergeleitet. Das trifft nach meinem Eindruck auch auf Alexander Hagelükens Buch „Das gespaltene Land“ zu; erschienen im Verlag Knaur Taschenbuch, München 2017, zu.

Risse durch die Gesellschaft
Reiche haben liquide Mittel, um Kosten zu überstehen, welche Armen das Genick brechen würden. Arme können deshalb nicht in dem Maße für die Bildung ihrer Kinder sorgen, wie es Wohlhabende können. Dadurch sinken die Chancen der Kinder, im späteren Leben aus der Armut heraus zu kommen. Aus dem Riss wird ein Graben, aus dem Graben eine unüberwindbare Kluft, und am Ende bilden Arm und Reich „zwei Nationen innerhalb einer Gesellschaft, zwischen denen keinerlei Kommunikation mehr möglich ist“ (Benjamin Disraeli, „Sybil Or The Two Nations“, erstmals erschienen in London 1845) Reiche können sich bessere Gesundheit und eine längere Lebenserwartung als Arme leisten. Den deutlichsten Riss durch die Gesellschaft markieren jedoch Versuche, Wohnviertel von Armen und Reichen durch Grenzzäune und Wachdienste baulich sichtbar voneinander zu trennen.

Schwierigkeiten bei der Verlaufsbestimmung
Bildlich gesprochen sind Klassenerhalt und Klassenaufstieg kaum noch möglich. Aber der Sturz in die Hartz-Vier-Gosse infolge prekärer Arbeitsverhältnisse schwebt heute sogar über Sachbearbeitern der Arge, die ganz genau wissen: Schon morgen können sie auf der Bittstellerseite des Schreibtisches sitzen. Es wäre gehässig zu sagen: „Dann sehen die mal, wie das ist“. Denn es kommt nicht auf die Erfahrung des Leids an, sondern darauf, dieses Leid nicht mehr zur lebensbestimmenden Größe werden zu lassen.

Was hat Neoliberalismus mit Armut zu tun?
Eng mit der Erörterung von Neoliberalismus verbunden ist der Meinungsaustausch zum Freihandelsabkommen TTIP. Für manche ist das Abkommen der neoliberale Teufel, der der globalen Wirtschaft erlaubt, sich über demokratische Anständigkeiten in den internationalen Beziehungen hinwegzusetzen. Andere sehen gerade im Freihandel Chancen für die Wirtschaft in schwierigen Zeiten Für Buchautor Hagelüken ist es so:
„Der Kurs der Globalisierung, der deutschen Firmen eine sagenhafte Expansion erlaubte, ist längst gefährdet. Linke und rechte Politiker in Europa und den USA wollen ausländische Waren an der Grenze aufhalten und neue Freihandelsverträge wie TTIP stoppen.“ (Seite 136)
Da hat sich doch der Teufel im Gewand des Engels dem Autor ins Vertrauen geschlichen.
(Alexander Hagelüken, „Das gespaltene Land“, Knaur München 2017)
Bibliographie weiterer Bücher über den Neoliberalismus (NL)
Kristina Weiland, „Die verratenen Mütter“
Inge Kloepfer, „Aufstand der Unterschicht“
Julia Friedrichs u.a., „Deutschland dritter Klasse“
Ulrike Herrmann, „Hurra, wir dürfen zahlen“
Markus Breitscheidel, Günter Walraff: „Abgezockt und totgepflegt“
Werner Rügemer. Elmar Wienandt, „Die Fertigmacher“
Anna K. „Total bedient“

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