FEUILLETON-REZENSION: Benedict Herles, “Zukunfstblind”

FEUILLETON-REZENSION

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Zukunftsblind

Ein Autor Jahrgang 1984 schrieb 2018 ein Buch mit dem Titel „Zukunftablind“. Beim Erscheinen des Buches war der Autor 34 Jahre alt. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls und des Ostblock-Endes war er 5 bis 6 Jahre alt. Den Endachtziger-Zeitgeist und den Wende-Zeitgeist hat er demnach nicht von Anfang an mit bekommen. Nehmen wir an, dass die bewusste Beobachtung von Politik, Gesellschaft und Zeitgeschichte ab 14-16 Jahren Lebensalters beginnt. Mit 14 bis 16 probiert einer, der Beobachter werden will, sich noch aus. Er hat noch Welpenschutz. er darf also unvollständig beobachten. Der Autor des Jahrgangs 1984 lebte mit 14 Jahren im Jahre 1998 und mit 16 im Jahre 2000. Die Jahre 1998 bis 2000 dürften dann seine ersten zeitgeschichtlichen Beobachtungsjahre gewesen sein und die von 2000 bis 2018 die bisher zweite Phase, nennen wir sie „Die erste Großphase“. In dieser ersten Großphase ist Benedict Herles Buch „Zukunftsblind“ angesiedelt.

(Benedict Herles, „Zukunftsblind“, Droemer, München 2018)

Der Untertitel erläutert, dass es in dem Buch darum geht, „wie wir die Kontrolle über den Fortschritt verlieren“. Der Untertitel setzt voraus, „dass wir die Kontrolle über den Fortschritt jemals in den Händen hielten.“ War das so? Wer kontrollierte die Aufklärung? Die Aufklärer oder ihre Geldgeber, die Forschungsreisen, Experimente und technische Entwicklungen finanzierten? Was ist mit Staaten und Gesellschaften? Hat die Menschheit aus all ihren Kriegen etwas gelernt? Ist sie „Fort geschritten“? Wohin? An welchem Punkt steht sie jetzt? Am Scheidepunkt der kreativen Intelligenz, die aus Erfahrungen Wissen schafft, zur künstlichen Intelligenz, die ähnlich wie Francis Fukuyama in seinem Buch vom Ende der Geschichte von fertig gedachten Zuständen der Gesellschaft ausgeht und alles weitere Geschehen nicht mehr als Entwicklung betrachtet, sondern als Algorithmus eines Handlungsablaufes, der einer von vielen ist? An diesem Punkt könnten tatsächlich sowohl die geistigen Jungspunde wie auch de gereiften und erfahrenen Damen und Herren das gleiche Unbehagen verspüren. Es wäre im Übrigen kein neues Unbehagen, denn „Das Unbehagen in der Kultur“ war 1930 Thema einer Veröffentlichung von Sigmund Freud. Insofern haben Autor und Thema beachtenswerte Vorbilder oder Glieder einer Reihe, in die sich Autor und Thema einordnen können. Benedict Herles versucht jedenfalls sehr ehrenwert, eine Dramatik in seiner Darstellung zu erzeugen. Sie gelingt nicht so ganz. Es ist, als ob ein Kind Jules Verne nacherzählt. Es mag in der Sache alles gut gelesen sein und auch in der Wiedergabe logischen Sinneinheiten folgen, aber zwei Dinge fehlen: Verständnis und Erzählfähigkeit. Das merkt man an zwei Platzhalterwörtern und einer Tendenz zum fortschrittsbegeisterten Jubeln. Die beiden Platzhalterwörter heißen Narrativ und Vision und tauchen immer falsch benutzt auf. Das Wort Narrativ hat in einem seriösen Text nichts verloren. Die richtige Verwendung von Narrativ ist, das Wort weg zu lassen. Mit diesen beiden Begriffen meint der Autor laut einer Erklärung einen Absatz weiter, dass es um Technikfolgenabschätzung geht und um Zielsetzungen. Die Abschätzung möglicher Folgen ist im Übrigen nicht nur bei der Entwicklung von Technik eine Grundüberlegung vor dem Beginn von Handlungen, sondern auch bei der Verabschiedung von Gesetzen. Bereits vor Jahren ließ mal das Justizministerium auf Anfrage mitteilen, dass Gesetzentwürfe lediglich anhand der Verfassung geprüft werden müssen, nicht aber bezüglich der Auswirkungen der Anwendung auf die Gesellschaft, das heißt, auf ihre Individuen. Im Grunde heißt Herlessens Gedanke, dass die Beschreibung der Aktualität und die daraus abgeleitete Weiterentwicklung immer hinter dem zurück steht, was vorne schon um die Ecke schimmert. Das ist schon fast so wie bei den Marxisten, wo die Produktivkräfte immer hinter den Produktionsverhältnissen zurück bleiben. Daher die rasante Beschleunigung, mit der man glaubt, „gestern“ würde „heute“ überholen, oder „heute“ „morgen“, aber „morgen“ „übermorgen“ ganz bestimmt. Nach einem beachtlich weit tragenden Bogen durch die technische Entwicklung im Computerzeitalter und den Plänen mit der künstlichen Intelligenz, die soweit gehen soll, dass der Mensch neue Kreaturen erzeugt statt bestehende wahlweise auszurotten oder genmanipulativ zu verändern kommt Herles doch – und beinahe überraschend – auf eine mögliche gesellschaftliche Auswirkung dieser Entwicklung. Er schreibt nämlich in dem Kapitel über den optimierten Menschen:

„Ein gesellschaftlicher Diskurs wird indessen nicht geführt. Von einem Konsens über das moralisch maximal Machbare kann keine Rede sein. Das gilt besonders in einer Welt, in der es keinen gemeinsamen ethischen Nenner gibt. Im schlimmsten Fall droht uns eine Spaltung der Spezies Mensch in eine natürliche und behandelte Art. Das Resultat wäre der ultimative Klassenkampf. Was, wenn eine genetisch optimierte Oberschicht bald einem unbehandelten Prekariat gegenübersteht? Das wäre die biologische Unumkehrbarkeit der Ungleichheit. Kapitalismus und Biologie würden untrennbar verschmelzen.“

Damit wäre dann auch das biologistische Denken bei Kapitalisten, Sozialdarwinisten, Rassenfanatikern und Neoliberalen geklärt. Und en passant die Erzeugung des Sklavengens für den derzeit erprobten neoliberalen Sozialfaschismus, den es überall in der Welt gibt und der in Deutschland Hartz Vier heißt.

(Benedict Herles, „Zukunftsblind“, Droemer, München 2018)

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