FEUILLETON-ZEITGEIST: Renaissance der Geopolitik und das Friedensgutachten 2021

FEUILLETON-ZEITGEIST

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„Renaissance der Geopolitik und das Friedensgutachten 2021“

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Vier Friedensforschungsinstitute haben Anfang Juni 2021 das jährlich erscheinende Friedensgutachten veröffentlicht. Für 2021 heißt der Titel „Europa kann mehr“. Mehr als was? Als eine Möglichmacher-Macht zu sein, wie eine Publikation der Müchner Sicherheitskonferenz von 30. Juni 2020 heisst? 1

Die vier Friedensforschungsinstitute sind das Internationale Rüstungskonversionszentrum Bonn, die Hessische Stiftung für Friedens-und Konfliktforschung, das Institut für Friedens-und Sicherheitsforschung an der Universität Hamburg und das Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen.

Die Großen Vier der deutschen Friedensforschung stellen ihrem Gutachten sechs Empfehlungen voran. Die Empfehlungen sollen erwartbare geopolitische Zuspitzungen in ihrer Entstehung besänftigen. indem sie bereits im Vorfeld sagen: „Ruhig, Brauner“, oder „Sutje, sutje“. Darum schreiben die Institute, dass Europa „die zivilen Komponenten der Außen-und Sicherheitspolitik“ betonen soll. Eine zivile Komponente der Außen-und Sicherheitspolitik war im Kalten die „Schlussakte von Helsinki“ am 1. August 1975. Daraus entstand die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE genannt. zwanzig Jahre später, am 1. Januar 1995, wurde aus der KSZE die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Die OSZE ist eine Internationale Nicht-Regierungsorganisation, wie es viele gibt. Sie agieren nicht im Regierungsauftrag und ihre Publikationen haben keine Regierungsbefugnis, aber sie bringen zivile Ansichten in eine wieder zunehmend militärisch definierte Geopolitik.

NATO, Russland, China: Geopolitik und Internationale Beziehungen

Die zivilen Sicherheitsbestrebungen gehören wie das weite Feld der Geopolitik zum Themenbereich „Internationale Beziehungen“ in den politischen Wissenschaften. Jetzt wird wieder mehr von Geopolitik gesprochen und geschrieben als von Internationalen Beziehungen. Das geographische Interesse an andren Ländern hatte immer auch mit den dortigen Rohstoffen, Bodenschätzen und Gewürzen zu tun und war daher immer verbunden mit dem Ausbau und der Sicherung der Infrastruktur zum Abtransport der Beute. Friedrich Engels, der Kumpel des schwer lesbaren aber vermutlich genialen Welterkenners Karl Marx, streifte diesen Zusammenhang zwischen wirtschaftlich-geographischem Interesse und der Entstehung der Phrase „Sicherung von Handelswegen und Rohstofflieferungen“. 1859 veröffentlichte er bei Franz Duncker in Berlin anonym die Broschüre „Der Rhein wird auch am Po verteidigt“.

Statt Fussnote: Kurzer Einschub einer Parallel-Analogie

Friedrich Engels bezog sich mit dem Titel seiner Broschüre auf den Vortragsreisenden Ex-General von Willingsen ab 1842, nachdem er in Italien eine Schlacht verloren hatte. im Dezember 2002 – also 160 Jahre nach Generals von Willingsens Formulierung von der verteidigung des Rheins auch schon in der norditalienischen Po-Ebene sagte der deutsche Verteidigungsminister Peter Struck über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Ob nun am Po oder am Hindukusch: beide Male wurden die Militärtätigkeiten durch eine fatal ähnlich lautende Formulierung begründet: Sicherung von Handelswegen und Rohstofflieferungen. Im 19 Jahrhundert wart es der Rhein, den Militärtätige gerne vom Po aus unter Kontrolle bekommen hätten, weshalb die Rohstofflieferungen auf dem Verkehrsweg Rhein in Gefahr gewähnt wurde. Auf diese Formulierung vom Handelsweg bezog sich 1991 ein Generalinspekteur der Bundeswehr, der die Sicherung von Handelswegen und Rohstofflieferungen als eine Art Klassenauftrag betrachtete, wenn man den aufkommenden Neoliberalismus als neue Form des Imperialismus ansieht und somit als Organisationsform derjenigen Klasse betrachtet, der sich Generalinspekteur Naumann zugehgörig fühlte. Die gleiche Formulierung benutzte dann Verteidigungsminister Volker Rühe in der Publikation „Verteidigungspolitische Richtlinie der 90er Jahre“.

Also: Seit der Industrialisierung der Wirtschaft im 19. Jahrhundert und der Analysen von Karl Marx zur Ausbeutung und Armut gibts es nichts „Neues im Kapitalismus“. Es wäre nur schön, wenn der Marx wenigstens heute verstanden würde.

Und damit zurück vom Interludium (Zwischenspiel) zum Nukleus (Hauptsatz).

Das Gespenst der Seidenstraße

Das Friedensgutachen geht von der historisch-parallelen Ausgangslage aus in die Details und beginnt dabei mit China und seiner geopolitischen und wirtschaftlich-militärischen Rolle in der Welt. Manche haben Angst, andere sehen den Beginn einer spannenden Reise auf der Neuen Seidenstraße und manche belegen Chinesischkurse an der Volkshochschule. Die Neue Seidenstraße wäre aber vermutlich auch eine Straße mit unwägbaren Anrainern. Aus wirtschaftspolitischer Sicht wären das Akteure, mit denen es zu Konflikten kommen kann. Territoriale und innerstaatliche Konflikte können die Nutzung einer transkontinentalen Straße durchaus zum Wagnis machen. Die unüberhörbare Anmeldung eines Anspruches auf den Status Weltmacht wird von den Auoren als chinesische „Wachablösung“ bezeichnet. Wachablösung ist eine Metapher für die Welt als Schiff und die jeweils führende Großmacht als Kapitän auf der Brücke. Kapitän China will also Kapitän Amerika von der Brücke ablösen. Skeptisch beurteilen die Autoren Chinas Territorialkonflikte in den umliegenden Seegebieten und mit den Anrainerstaaten. Von den Rohstoffvorkommen im Meer ist leider nicht die Rede. Ausführlicher erörtern die Autoren die chinesischen Sicherungsmaßnahmen von Handlungswegen. Die zum vollständigen Begriffspaar „Handelswege und Rohstofflieferungen“ gehörenden Bodenschätze muß man sich also erstmal dazudenken.

Das unwägbare Europa

Von China mal abgesehen: Europa selbst ist ja auch ziemlich unwägbar geworden. Denn: „Demokratien auf der Kippe“ können sich zu globalen Trends und damit zu Bedrohungen für Frieden, soziale Errungenschaften, Kultur, Bildung und Umwelt auswachsen. Nach der haarsträubenden thüringischen Landtagswahl 2020 sagte man dort sinngemäß: „Noch ist Thüringen nicht verloren“, als der Kurzzeit-Ministerpräsident von Nazignaden sich anschickte, Politik mit den AfDlern zu machen. Wenn auch der Afd-Sturm am Freistaat gezottelt hat, so hat der Staat diesen Sturm doch souverän abgewettert. Doch wie stabil bleiben Demokratie und Verfassung in Zukunft? Trotz aller Populistenangriffe trotz aller selbstgemachten Unzulänglichkeiten? Nur der erringt die Freiheit und das Leben, der täglich sie erhalten kann. Und darum muss sich eine Gesellschaft auch und gerade im Kleinen kümmern. Noch schaffen es Bürger und Demokraten in Mittel-und Ostdeutschland, die Rechten immer wieder zu deeskalieren. In Mittel-und Osteuropa, in Polen und Ungarn, ist die Bedrohung der Demokratie bereits weiter voran geschritten.

Ziviler im Auftritt

Handel soll, wenn es sich um einen ehrbaren Austausch von Waren und Dienstleistungen handelt, kein heimlicher Raub von Holz aus dem Wald oder von Äpfeln aus Nachbars Garten sein. Denn solch ein heimlicher Raub bedingt Wege, auf denen die Beute abtransportiert wird, und einen Schutz, damit sie den Räubern nicht wiedern aus den Händen gerissebn wird. Aber bereits nahe dem Westen, also vor den Toren, sehen die Autoren des Friedensgutachtens bewaffnete Konflikte in Osteueropa. Um diese zu dämpfen und einzustellen müßte man die Lebensbedingungen der Bewohner verbessern.

Aus der erörterten Lage der Welt folgern die Autoren für Europa folgendes:

1.Zur Dämpfung der stets neues Öl in die Flammen der Krisehherde der Welt gießenden Rüstungsindustrie braucht Europoa eine normative Friedenssicherungsaufgabe.

2.Dazu gehört eine transatlantische Emanzipation. Mama Amerika darf gerne zum Kindchen Europa an den Küchentisch kommen, aber dem Kindchen nicht in den Haushalt reinreden. Und das Kindchen muss auch mal sagen: Ist gut jetzt, Mom, Du kannst auch mal loslassen.

3.Europa will oder soll unter Leitung der Deutschen eine Gruppe der Freunde der OSCE gründen. Daraus soll eine betont zivile Gemeinsame Sicherheits-und Verteidigungspolitik entstehemn. Diue hiess vor zwanziug Jahren noch gemeinsame Aussen-und Sicherheitspolitik. Die militärischjen Komponenten sollen gesondert stattfinden.2

Alles in Allem

Der Frieden scheint eher von den Folgen der Umweltzerstörung aus Profitgier und dem nachlässigen Umgang mit Bildung und Kultur bedroht zu sein. Nachlässiger Umgang mit Bildung und Kultur kann zu einem Verlust der demokratischen Vernunft und zu einem Verlust der konfliktabbauenden Fähigkeiten führen. Dann gleitet der Welt der Frieden aus der Hand und der verantwortungslose Terror tobt sich aus.


1 Munich Security Brief: “The Enabling Power. Germany’s European Imperative” – Munich Security Conference

vgl auch „Das Flugblatt“ Nummer 156 von August 2020

2 Ich glaube, an dieser Stelle muss der künftigen Entwicklung ein aufmerksamer Beobachtungsblick gewidmet werden.

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