FEUILLETON-REZENSION: Vom Urzustand zum Gesellschaftsvertrag

FEUILLETON-REZENSION

Buchtitel: Vom Urzustand zum Gesellschaftsvertrag
Autor: Dennis Hindenburg
Verlag:Oekom-Verlag
Name des Rezensenten: Hannes Nagel

„Siehste“, sagte die Moralphilosophie“

Dennis Hindenburg beginnt sein Buch „Vom Urzustand zum Gesellschaftsvertrag“ mit einer umfassenden Beschreibung der sattsam inakzeptablen Reichtumsverteilung der globalen Einkommen und der von der Reichtumsverteilung abhängenden Teilhabe an der Wasserversorgung, am Bildungszugang und an der gesundheitlichen Betreuung. Hindenburg sagt: Die extreme Armut könnte von einem Tag auf den anderen beendet sein, wenn zwei Prozent des globalen Reichtums umverteilt würden. Stattdessen bekommt die Rüstungspolitik zwei Prozent dauerhaft mehr aus dem nationalen Wirtschaftshaushalt. (Wahrscheinlich nennen die mit der Sache vertrauten Kreise der Politik dies „Priorität“). Andererseits würde die Oberreichen, wenn ihnen zwei Prozent aus dem Vermögen fehlen, den Verlust noch nicht einmal bemerken. Es sollte einmal oder mehrfach ausprobiert werden. Wegen solcher einleitender Gedanken nennt Dennis Hindenburg sein Buch auch eine Art „Denkübung“ für eine „neue Theorie zur Verteilungsgerechtigkeit“. Immerhin: Die Existenz neuer Theorien besagt auch, dass jede Theorie auch in Frage gestellt werden kann. Das bedeutet, dass etwas, was so ist, wie es immer schon war, nicht doch auch mal besser werden könnte, so wie man es sich zu jedem Silvester vom Neuen Jahr wünscht, denn einmal muss es ja besser werden, weil es nicht noch schlimmer werden kann. 1 Und das dürfte Armutsrentner, Harz-Vier-Opfer, Ausgestoßene und Benachteiligte besonders freuen.

Nicht jeder Anfang muss im Urschleim liegen

Die Suche nach der Verteilungsgerechtigkeit ähnelt der Frage, wann es Frieden gibt. Für Dennis Hindenburg gab es einen fiktiven Urzustand, in welchem es zwar Menschen gab, aber keine Gesellschaften. Der Urschleim lag also schon eine zeitlang zurück. Und die Menschen lebten anarchisch dahin. Die Entstehung der Gesellschaft geschah nun aber mit mit der Entstehung unterschiedlichen Wissens. Der Kollateralschaden des Wissens bestand darin, dass Menschen aus Versehen zu sich selbst von ihren Mitmenschen zu unterscheiden begannen. Die Entstehung des Besserstellungsdünkels über „die da unten“, die man geringschätzig auch als Verbraucher bezeichnen kann, die „unseren“ Abfall verwerten, „sie wollen es ja“, war geboren. 2 Wissen , überspitzt ausgedrückt, muss demnach in die Gleichheit der Menschen eine „Schere“ hinein praktiziert haben, die zwischen Arm und Reich im Laufe der Zeit immer weiter auseinander gegangen ist. Dann wäre nun also die Frage zu beantworten, wie Bildung den Kollateralschaden der Verteilungsungerechtigkeit durch Schließung der Schere ihrer Verpackung in Etui und Schubfach „repraktizieren“ soll.

Von einem ähnlichen Zusammenhang ist auch oft bei der Überlegung die Rede, wie die ewigen Kriege von Menschengesellschaften gegeneinander beendet werden können. Wenn die Verteilung erst wieder gerecht wird, wenn Gleiche neben Gleichen sprießen, und die gleiche Bildungsfrucht genießen, dann müsse man leider auch sagen, dass es Frieden erst wieder geben kann, wenn es keinerlei Staaten mehr gibt. Wie damals im Urzustand.

Die Beschreibung des Ausgangspunktes von Dennis Hindenburgs Gedankenexperiment klingt somit ein wenig ähnlich wie die bekannte biblische Geschichte von Adam, Eva und dem Apfel. Ganz zu Schweigen von der Schlange.

Vernunft ist nicht immer widerspruchsfrei

Die Erörterung der Prämissen des menschlichen Handelns scheint widersprüchlich. Einerseits sollen die Menschen im Urzustand von den „sieben Schleiern des Unwissens“ umweht sein; andererseits aber „Zugang zu allem bekannten Wissen“ haben. Das kann nicht stimmen. Es hieße, die „Maslowsche Bedürfnispyramide“ würde auch ohne Kenntnis ihrer Existenz auf die Menschen wirken. Den Gedanken müßte man wohl ein wenig im Auge behalten. Denn wenn die Bedürfnispyramide dem Beispiel der Frau von dem Fischer aus dem Märchen vom Fischer und seiner Frau folgt, ist Bescheidenbleiben mit jeder Wunscherfüllung immer weniger möglich. Dawäre etwas im Menschen, was ihn zwingt, immer mehr haben zu wollen, auch oghne sich dieses Prinzips bewusst zu sein. Die Werbung wäre dann nur eine Beschleuniger dieses verderblichen Prozesses des „Immer Mehr wollens“. Mit solch einem Charakter kann aber die Menschheit nicht aufhören, „sich selbst den Sand unter den Füßen wegzuschaufeln“. Oder jemand anderem den Sand wegzueimern, den man selbst braucht, um selbst noch genug davon unter den Füßen zu haben.

Bedürfnisse sind gerecht, wenn sie nicht den Bedürfnissen anderer im Weg sind.

Einer mag Gold und Marmor, ein anderer Holz und Lehm. So verschieden ist es im menschlichen Leben. Solange der mit dem Marmor den andern nicht am Lehm hindert und umgekehrt, können unterschiedliche Bedürfnisse nebeneinander existieren. „Keiner soll sagen, wer da liebt, der sei schlecht: Denn für alle, die da Lieben, gibts die Liebe erst recht: Und der eine liebt die Einzige, dier der Himmel ihm beschert, und der andre all die kleinen Lümmelchen , die er findet auf der Erd“. 3

Chacun a sont gout. Für alles andere kann man Regeln aufstellen. Und auf diese kommt Hindenburg ab Seite 52 zu sprechen. Denn er kann ja nicht um die Beobachtung herum kommen, dass es knappe Güter gibt, die dennoch jeder braucht, und wenn es das neue Hüftgelenk für einen 9o-jährigen Patienten mit Geld ist im Vergleich zu einem Verunfallten 25-Jährigen Minijobber.

Prima Buch.

Es sollte in der zehnten Klasse als Jahresausbildungsfach gelehrt werden, und zwar ohne jegliche Prüfung. Denn lernen darf Spaß machen.

(Dennis Hindenburg, „Vom Urzustand zum Gesellschaftsvertrag”, Oekom-Verlag 2022)


1  Das ist nur eine Vermutung. Der Beweis steht noch aus, aber es spricht viel dafür, dass es das Bessere geben muss. Einfach deshalb, weil es statistisch gesehen nicht in der Gesamtverteilung fehlen kann. Siehe Gauß, siehe Normalverteilung.

2  „Und was ich auch immer noch lerne / dies ist das Einmaleins / Nicht hab ich jemals gemeinsam /mit der Sache des Klassenfeinds“. Erst muss sich die Schere schließen, bevor Gleiche neben Gleichen sprießen. Das musste mal gesagt werden.

3 Den Text gibt es im Volksliederarchiv und an andren Stellen https://www.volksliederarchiv.de/und-keiner-soll-sagen/

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