EUILLETON-ZEITGEIST
„100 Jahre Rapallo-Vertrag”
von SOLOTÄNZER
Teil 1: Auf dem Weg nach Rapallo
„Vergessen Sie nicht: ex oriente lux“1 – das Licht kommt aus dem Osten, murmelte der deutsche Kaiser Wilhelm II. resignierend bei Unterzeichnung seiner Abdankungsurkunde in Gegenwart des damaligen Legationsrat, Ago von Maltzan, am 28. November 1918 in Amerongen.
Der Sinn dieser Worte liegt unter einem Nebel der Vieldeutigkeit, doch verweist er auf den deutschen politischen Blick in Richtung Osten. Das 1871 errichtete deutsche Kaiserreich in der Mitte Europas wurde durch Bismarcks Außenpolitik in ein ausbalanciertes System von Allianzen eingebettet, die sowohl westliche, als auch östliche Interessensphären berücksichtigten. Der deutsche Anspruch nach Weltgeltung im Zuge seiner wirtschaftlichen Prosperität und der ungelöste Konflikt um die Vormachtstellung europäischer Mächte entluden sich in den Gewaltexzessen des Ersten Weltkrieges.
Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zerstörte nicht nur den zivilisatorischen Glauben, sondern auch die territoriale Ordnung Europas und jene Regularien der Konfliktbearbeitung, wie sie seit dem Westfälischen Frieden (1648), dem Frieden von Paris (1763) über den Wiener Kongress (1815) bis hin zum Berliner Kongress (1878) und den Vereinbarungen zur Haager Landkriegsordnung (1899, 1907), existierten. Die Vision einer neuen Friedensordnung skizzierte US-Präsident Wilson in einem 14 Punkte Programm2, dass mit dem Bekenntnis zur völkerrechtlichen Selbstbestimmung, freiem Handel, offener Diplomatie, Abrüstung, der Völkerbundidee zentrale Elemente für eine stabile Zukunft der Staatenwelt bot. Dieser Idealismus musste jedoch den nationalen Machtinteressen weichen, die das Wort der Friedensverhandlungen von Versailles führten. Das durchaus brüchige Bündnis der alliierten Siegermächte der Entente (Großbritannien, Frankreich, Italien) mit der kleinen Entente (Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien) und weiteren assoziierten Kleinstaaten im späteren Schlepptau konfrontierte Deutschland mit einem Vertragswerk, das zur schweren Hypothek werden sollte.
Unter den sogenannten Pariser Vorortverträgen gewann der zwischen Januar 1919 und Mai 1919 verhandelte Versailler Vertrag (VV) mit 440 Artikeln den größten Stellenwert. Auf Grundlage der explizit festgestellten deutschen Kriegsschuld (Art.232 VV: „ Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“) wurden umfangreiche Reparationsforderungen aufgestellt. Neben Sachleistungen in Form von Waren, Rohprodukten (Fleischerzeugnisse), Schiffen, Rohstoffen (Kohle) und Wertpapieren belief sich der in Goldmark zu leistende Entschädigungsanspruch auf zunächst 20 Mrd. Eine alliierte Reparationskommission, die unter maßgeblichen französischem Einfluss stand, sollte in den Folgejahren die Schuldentilgung Deutschlands überwachen. Darüber hinaus verlor Deutschland durch Gebietsabtretungen 1/7 seines Territoriums und 1/10 seiner Bevölkerung. Militärisch sahen die Abrüstungsvorschriften den Verzicht auf die allgemeine Wehrpflicht, eine Berufsarmee von maximal 100.000 Mann, keine schweren Waffen (U-Boote, Panzer, Schlachtschiffe, chemische Kampfstoffe) und das Verbot des Wiederaufbaus einer Luftstreitkraft vor. Hinsichtlich seiner völkerrechtlichen Handlungsfreiheit musste Deutschland akzeptieren, dass eine 15 jährige Besetzung des Rheinlands erfolgte, die unabänderliche Unabhängigkeit Österreichs anerkennen (Art.80VV) und wie Art. 434 VV es formulierte: „Deutschland verpflichtet sich, die volle Geltung der Friedensverträge und Zusatzübereinkommen zwischen den alliierten und assoziierten Mächte und den Mächten, die an Deutschlands Seite gekämpft haben, anzuerkennen, den Bestimmungen, die über die Gebiete der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, die Königreichs Bulgarien und des osmanischen Reiches getroffen werden, zuzustimmen und die neuen Staaten in den Grenzen anzuerkennen, die auf diese Weise für sie festgesetzt werden.“ Das bedeutete die völkerrechtlich bedenkliche Ausweitung eines vertraglichen Zugeständnisses über noch in der Zukunft liegende Inhalte. In einem Abschnitt XIV wurden Regelungen über Rußland und die russischen Staaten aufgenommen, die recht bald an politischer Brisanz gewinnen sollten. Art 116 II VV erklärte die „Aufhebung der Verträge von Brest-Litowsk sowie aller anderen Verträge, Vereinbarungen und Übereinkommen an, die es mit der maximalistischen Regierung in Rußland abgeschlossen hat.“ Artikel 116 III besagte zusätzlich: „Die alliierten und assoziierten Mächte behalten sich ausdrücklich die Rechte Rußlands vor, von Deutschland jede Widerherstellung und Wiedergutmachung zu erhalten, die den Grundsätzen des gegenwärtigen Vertrags entspricht.“ Damit eröffnete sich ein Weg für Russland, Reparationsansprüche gegenüber Deutschland zu erheben bzw. sie in Verhandlungen an Drittmächte abzutreten. Deutschland selbst stand vor der Gefahr einer uferlosen Schuldnersituation. Art. 117 bestimmte schließlich: „Deutschland verpflichtet sich, die volle Gültigkeit aller Verträge und Vereinbarungen anzuerkennen, die von den alliierten und assoziierten Mächten mit den Staaten abgeschlossen werden, die sich auf dem Gesamtgebiete des ehemaligen russischen Reiches, wie es am 1. August 1914 bestand, oder in einem Teil desselben gebildet haben oder noch bilden werden. Deutschland verpflichtet sich ferner, die Grenzen dieser Staaten so, wie die danach festgesetzt werden, anzuerkennen.“
Mit der Auflösung des Königreiches Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich entstand eine Reihe von zwischeneuropäischen Mächten (Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien, Ungarn, Österreich, Estland, Lettland, Litauen), deren Existenz einen Schutzgürtel gegenüber Russland darstellen konnte, deren willkürlichen Grenzziehungen aber auch zukünftige Konflikte begünstigte. Inmitten revolutionärer Unruhen und während des demokratischen verfassungsgebenden Prozesses in Deutschland wurden die Versailler Friedensbedingungen trotz nationaler innenpolitischer Widerstände Ende Juni 1919 unterzeichnet, nachdem das erste amtierende Kabinett Scheidemann geschlossen zurück getreten war. Das fragile neue deutsche Demokratiesystem sah sich mit erheblichen wirtschaftlichen Belastungen am Rande seiner Leistungskraft angekommen, die Währung verlor an Wert in hohen Inflationsdimensionen, der Haushalt wurde zunehmend defizitärer und die starre Garantiehaltung der Siegermächte (Hüter der Verträge) ließ keine Zugeständnisse in der Reparationsfrage erwarten.
Außenpolitisch erlebte sich Deutschland als isoliertes Völkerrechtssubjekt, dessen Aktivitäten v.a. seitens Englands und Frankreichs mit Argwohn beobachtet wurden. Lenkte man jedoch den Blick nach Osten erblickte man im bolschewistischen Russland ebenso einen temporären Paria der Staatenwelt. War es nicht die kaiserliche deutsche Oberste Heeresleitung gewesen, die in der Hoffnung auf Destabilisierung 1917 den mittelosen Berufsrevolutionär Lenin in Zürich in den Zug nach Sankt Petersburg setzte und der Revolution auf die Beine half? In den Jahren danach wusste sich die neue föderative Sowjetrepublik in den Interventionskriegen zu behaupten und schien durch ihre bloße Existenz zur ideologischen Gefahr für Europa zu werden. Die Revolution musste in die Welt hinaus getragen werden oder zu mindestens müssen die Gegensätze der imperialistischen Staaten gezielt gefördert werden. Außenpolitik wird zum Mittel des Klassenkampfes.
„Der dritte Gegensatz ist der Gegensatz zwischen der Entente und
Deutschland. Deutschland ist besiegt, vom Versailler Vertrag erdrückt, es
verfügt aber über ungeheure ökonomische Möglichkeiten. Deutschland ist
seiner wirtschaftlichen Entwicklung nach das zweite Land der Welt, wenn
man Amerika als das erste betrachtet. Fachleute behaupten sogar, daß die
Elektroindustrie Deutschlands höher stehe als die Amerikas. Und Sie wis-
sen, was für eine gewaltige Bedeutung die Elektroindustrie hat. Was den
Umfang der Anwendung der Elektrizität betrifft, so steht Amerika höher,-
was die technische Vollendung betrifft, Deutschland. Und einem solchen
Land hat man den Versailler Vertrag aufgezwungen, der ihm die Existenz
unmöglich macht. Deutschland ist eines der stärksten und fortgeschrittensten
kapitalistischen Länder; es kann den Versailler Vertrag nicht er-
tragen und muß sich nach einem Verbündeten gegen den Weltimperialis-
mus umsehen, obwohl es selbst ein imperialistisches Land ist, das jedoch
niedergehalten wird.“ 3
Die deutsche Regierung orientierte sich zunächst an einer den alliierten Forderungen entsprechenden Erfüllungspolitik, welche auf diplomatischem Wege versuchte, Differenzen zwischen Frankreich und England im Interesse einer Reduzierung der Reparationslasten aufzugreifen. Die Haltung wurde von der Befürchtung eines geeinten militärischen Vorgehens der Alliierten gegen Deutschland im Falle einer verweigerten Schuldentilgung bestimmt. Darüber hinaus schwebte gleich einem Damoklesschwert über der Außenpolitik, die Möglichkeit einer Verständigung Rußlands mit Frankreich, England bzw. Italien und daraus resultierender zusätzlicher (östlicher) Wiedergutmachungsansprüche. Diese Gefahr vergrößerte sich umso stärker, als der Plan den wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands durch ein europäisches Konsortium der Entente zu finanzieren (und damit erhoffter evolutionärer Wirtschaftstransformation Russlands) konkretere Gestalt annahm. Die Ententemächte fürchteten wiederum einen deutschen Alleingang in der Russlandfrage und eine drohende Verknüpfung von industrieller Stärke und Rohstoffreichtum. Das Verhältnis Deutschlands zu Russland stellte nach dem Abbruch der kaiserlich-diplomatischen Beziehungen im Herbst 1918 und der Annullierung aller Verträge von Brest-Litowsk einen Zustand völliger Vertragslosigkeit dar. Das Interesse an der Wiederbelebung wirtschaftlicher Beziehungen zu Sowjetrussland war sehr ausgeprägt, durfte jedoch zu keiner Verärgerung der alliierten Siegermächte führen. So betonte Außenminister Simons in einem Zeitungsinterview im August 1920: „Ich bin der festen Überzeugung, daß zu einer wirtschaftlichen Gesundung Europas auch die deutsch-russische Zusammenarbeit erforderlich ist. Es braucht dabei Rußland die deutsche industrielle Mitarbeit ebenso sehr wie wir die russischen Rohstoffe und Lebensmittel. Andere europäische Staaten sind in ähnlicher Lage, so daß ganz Europa auf die Erfolge dieses Zusammenarbeitens für seine wirtschaftliche Wiederherstellung angewiesen ist.“4 Die allmähliche Annäherung Deutschlands an Rußland vollzog sich im eher informellen Umfeld und halbprivaten Austausch von Interessenvertretern beider Seiten. Dies geschah in vorsichtiger sondierender Weise und begann als erste Fühlungnahme über Regelungen zum Austausch von Kriegsgefangenen. Doch das zögerliche Abwarten innerhalb der deutschen auswärtigen Politik durch die Ostabteilung des Amtes stieß auf kritische Einwände in wirtschaftlichen Kreisen. So formulierten die Industriemanager Walter Rathenau, Felix Deutsch und der Bankier Alexander von der Deutschen Orient Bank in einer Denkschrift vom 17.02.1920:
„Denn das ist das Entscheidende: Deutschland wird entweder eine Kolonie der europäischen Ententestaaten (…) oder es gelingt ihm, die im Osten Europas vorhandenen politischen Möglichkeiten zu verwirklichen und ein bescheidenes Maß von Selbständigkeit und Freiheit zu erringen, das es vor den schlimmsten Entbehrungen und Bedrückungen schützt. Zu den nachbarlichen Beziehungen und den wirtschaftlichen Ergänzungen, die Mittel-und Osteuropa miteinander verbinden, treten die gemeinsamen Nöte und bei Rußland und Deutschland das gemeinsame Schicksal der Besiegten hinzu. Die hier gegebenen Berührungspunkte klug und sorgfältig auszunutzen und durch ihren Ausbau ein tragfähiges Gerüst deutscher Außenpolitik zu schaffen, das ist das Gebot, dessen Bedeutung wohl niemals stärker empfunden wurde, als in diesen Tagen, in denen das Auslieferungsgebot der Entente den deutschen Namen mit einem unaustilgbaren Schandmal für Jahrhunderte zu beflecken sucht.“5
Die russlandpolitische Programmatik im Auswärtigen Amt von Berlin wurde grundlegend durch den Ministerialdirektor Freiherr Adolf Georg Otto „Ago“ von Maltzan (1877-1927) entworfen und engagiert vollzogen. Seine Kompetenz und pragmatische Persönlichkeit wird in dem Jahr 1922 von gewichtiger Bedeutung sein, als während der Wirtschaftskonferenz in Genua, in dem kleinen Städtchen Rapallo an der italienischen Riviera, plötzlich eine diplomatische Sensation an das Licht des Tages dringt. Walter Rathenau als deutscher Außenminister und Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin als Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten der R.S.F.S.R zählten zu den weiteren Akteuren. Ganz im Verborgenen freute sich eine dritte Person über die Geschehnisse des Tages, Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung der Reichswehr von 1920-1926, verschwiegener Initiator einer militärischen Kooperation besonderer Art.
Es geschah am 16.04.1922, dem Ostersonntag vor 100 Jahren als der deutsch-russische Vertrag von Rapallo eine Resonanz erzeugte, die bis heute nachwirkt. Das Geheimnis der weiteren Ereignisse lüften wir in der Maiausgabe des Flugblattes.
1 zitiert nach Niels Joeres: Der Architekt von Rapallo, Heidelberg 2006,S.99, siehe: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6751/1/Pflichtveroeffentlichung.pdf
2 siehe https://usa.usembassy.de/etexts/ga2d-14points.htm
3 Lenin in: REDE IN DER AKTIVVERSAMMLUNG
DER MOSKAUER ORGANISATION DER KPR(B)am 6. DEZEMBER 1920, siehe: https://kommunistische-geschichte.de/LeninWerke/LW31.pdf)
4 zitiert aus: Freiheit – Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands vom 8.August 1920 in: https://www.fes.de/e/historische-presse-der-deutschen-sozialdemokratie-online
5 zitiert nach Niels Joeres: Der Architekt von Rapallo, Heidelberg 2006,S.152, siehe: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6751/1/Pflichtveroeffentlichung.pdf)