FEUILLETON-REZENSION: Wahrheit und Lüge in der Politik

FEUILLETON-REZENSION

Buchtitel: Wahrheit und Lüge in der Politik
Autor: Hannah Arendt
Verlag: Piper
Name des Rezensenten: Hannes Nagel

„Umdeutung ist möglich. Ungeschehen machen nicht“

Diesmal stellen wir Ihnen ein Buch mit zwei Essays aus den Jahren 1967 und 1971 vor. Manchmal muss man die Vergangenheit bemühen, wenn die Wahrnehmung der Gegenwart ohne sie wie ein Blick durch eine Milchglassscheibe ist. Man erkennt nichts, und selbst Schatten, die sich bewegen, haben keine Konturen.Im Verlauf des Viel-Lesens in den Jahren von 2010 bis 2020 trat hin und wieder, aber zunehmend häufiger, ein sehr befremdlicher Eindruck auf. Es schien, als würden Erkenntnisse und Fakten aus der Vergangenheit teils nicht mehr erwähnt oder im Falle von Büchern und Filmen nachträglich heraus geschnitten. Ein Bekannter aus dem Osten Deutschlands sagte in der Wendezeit, er würde jetzt erstmal eine Zeit lang in den Westen gehen, „um seine Biographie zu bereinigen“. Aber er vergaß: Man bleibt doch immer, was man ist. 1 So hat er sich verbogen und verdreht, ist aber im Kern der Gleiche geblieben, der er von seinen Anlagen her war. Und das besagt: Charaktere können sich entwickeln, aber der Grundtakt, den jeder einzelne Mensch hat, zieht sich durch alle Variationen bis hin zur meisterhaften Verfremdung. Und so kann man zwar versuchen, Geschichte umzudeuten, aber Tatsachen kann man nicht ungeschehen machen. Darum betrifft die Rezension des Monats Juli die Broschüre „Wahrheit und Lüge in der Politik“.

Der erste Teil der Broschüre heißt „Die Lüge in der Politik“. Im Text begegnet einem ein unbekannter lateinischer Ausdruck. Wer hat je von „Arcana imperii“ gehört und weiß, dass es „Staatsgeheimnisse“ bedeuten soll? Und durch welch einen großen Gedankenbogen kommt man von „Staatsgeheimnis“ zu der Aussage: „Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden“? An diese These schließt sich im Text von Hannah Ahrendt eine spannende Herleitung an. Es steht den Menschen frei, die Welt zu verändern. Also nicht allen, aber denen, die Zugang zu den dazu benötigten Mitteln haben. Aber: Der Prozess des Änderns ist eine Handlung. Und das Handeln, resümmierte Hannah Ahrendt, ist „genuin politisch“. Also: Wenn ich etwas verändere, handele ich politisch. Wenn ich in der Gastronomie arbeite und und schiebe etwas vom Abwasch zum Kollegen rüber, so dass der mehr zu tun hat, handele ich „personalpolitisch“, indem ich Menschen für Aufgaben einsetze, die sie ohne mich nicht hätten. Kann man das so vereinfacht sehen? Vielleicht.

Ab hier taucht immer wieder der Ausdruck „Tatsachenwahrheit“ auf. Tatsachen brauchen Zeugen, um festgestellt zu werden, schrieb die Autorin. Aber das, was die Zeugen sehen, ist nicht notwendig das Wesen der Dinge. Es mischen sich immer wieder Interpretationen hinein. Deswegen schrieb Hannah Ahrendt: „Tatsachenwahrheiten sind nicht notwendigerweise wahr“. Sie sind aber auch nicht notwendigerweise gelogen. Denn die Lüge ist im Vergleich zur nicht-wahren Tatsache eine bewusste kommunikative Fehlinformation zum Zwecke des Handelns – und also politisch.

Dann müßte es als Gegenpol zur Lüge als Wesen politischer Äußerungen auch Überlegeungen geben, was unter politischer Wahrheit zu verstehen ist, insofern es eine solche gibt. Oder aber der Gegensatz zur Lüge ist die die Vielfalt der politischen Tatsachen-Wahrheiten, womit bewiesen wäre: Wahrheit geht nur durch Meinungsvielfalt.

Der zweite Teil heißt „Wahrheit und Politik“. Der Essay beginnt mit umfassend verbreiteten Ansicht: „Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist“. Die Erörterung des Allgemeinsatzes wird mit zunehmender Differenzierung zunehmend spannender, weil sie sich zeitlos und prophetisch auf die Gegenwart anwenden läßt. Bisweilen tauchte beim Lesen der Eindruck auf, dass Tatsachen unvollständig sind, Wahrheiten veränderlich und Meinungen Mißbrauch der Meinungsfreiheit zum Zwecke der Lüge sind. Die Benutzungdes Wortes Anticorona-Maßnahme ist entweder Maßnahme des Staates , um die Plage einer Pandemie medizinisch zu beseitigen, oder Protest von Gegnern staatlicher Maßnahmen gegen die Staatsmaßnahmen. Was ist wahr, was ist Lüge, was ist Meinung? Wahrscheinlich geht alles ineinander über. Nur eins scheint sicher: Die Lüge ist am ehrlichsten erkennbar. Denn sie muss notwendiger weise im Widerspruch zu den bekannten Stufen des Wissens stehen. Hierfür bemüht Hannah Ahrendt leider nur das wiederkehrende Beispiel der Geschichtsfälschung. Wenn jemand aus Fotografien heraus retuschiert wird oder Lexikoneinträge geändert oder Sprache nachträglich korrigiert wird, dann müsste konsequenter weise auch jede Erinnerung an Personen ausgelöscht werden. Aber schon in Krimis wird klar: Wer einen Zeugen beseitigt, hinterlässt Zeugen der Zeugenbeseitigung. Die Spuren werden durch jeden Vertuschungsversuch breiter.

Nur ein einziges mal taucht der Gedanke der Freiheit in den beiden Essays auf. Und diese Freiheit ist immer nur gegeben, wenn es eine Vielfalt von Meinungen gibt und eine als wahr geltende politische Aussage nicht durch Machterhalt motiviert ist.

Ein wunderbrares Buch. Die Kontinuität zwischen Autreon der Vergangenheit und Lesern der Gegenwart sollte gepflegt werden. Das wäre der Gesiut der Zeit, welcher die Zeit wieder geistvoll macht.


1  Im ersten Teil von Goethes Faust spricht Mephisto zu dem Sinn suchenden Gelehrten: „Setz Dir Perücken mit Millionen Locken. Stell Deinen Fuß auf ellenhohe Socken – Du bleibst doch immer, was Du bist.“ Man kann eben nicht vor sich selbst weglaufen. Der Teufel kann sich selbst ja auch nicht selbst verschlingen.

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