Rezension: Deutschland dritter Klasse
Freitag, 05. März 2010
Vom Absturz des Klassenprimus in die Drittklassigkeit
Autor: Hannes Nagel
Vom Absturz des Klassenprimus in die Drittklassigkeit
Eigentlich hatten Karl Marx und andere die Existenz einer klassenlosen Gesellschaft angenommen. „Klassen sind….“ Pscht, jetze keine Definition aus PolÖk. Über die Zugehörigkeit zu einer Klasse entscheidet der Anteil am Wohlstand, der Existenzsicherung, der Annehmlichkeiten. Fast ist man geneigt, auch den Grad der Dekadenz als Klassenzugehörigkeitsmerkmal zu nennen, weil Guido WeWe diesen Stachel in den gesenkten Nacken der abgabengeplagten und belohnungsentwöhnten Gesellschaft gepiekst hat. Die klassische Klassengesellschaft war eine Gesellschaft, wo es eine Arbeiterklasse gab – man nannte sie Proletariat, was heute fast ein Schimpfwort ist, Du Proll, Du, verstehste, – und eine Ausbeuterklasse. Dazwischen gab es Bauern und kleine Krauter, wie ein heute ebenfalls verächtlicher Ausdruck sie nannte. Das waren Schichten, also nicht Fleisch noch Fisch. Das mit den Schichten ist wichtig, da kommt nach was nach.
Bei der Eisenbahn gab es seit der ersten regulären Personenbeförderungsverbindung ebenfalls Klassen. In der ersten Klasse saßen die Reisenden auf rotem Samt, das Abteil war gereinigt und der Schaffner riss sich den Arsch auf, um klassengerecht Kaffee, Baguette, Croissants, J.P.Chenet blanc und L.Mi.Do.A.A. zu servieren. Die zweite Klasse sass auf grünem Leder, wo man im Sommer mit dem Arsch auf der Bank festklebte, wegen der Hitze, und wenn man Lust auf Kaffee und so weiter hatte, riss man den Arsch von der Bank und ging zum Speisewagen. (Lange Schlange, viele Pöbeleien, Kaffee lauwarm und zu teuer: „Fahren Sie doch Erster Klasse, wenn et Sie nich passt“) Ganz zu Anfang gab es auch noch die Klasse, die mit Hühnern, Schweinen, Ziegen im Holzwagon reiste, das war die Dritte Klasse. Die konnten nicht mal bis zum Speisewagen gehen, um Wasser zu bekommen.
Der ICE Deutschland ist ein ICE mit erster, zweiter und dritter Klasse, und damit die Reisenden der Ersten Klasse es erfahren und die Reisenden der Zweiten Klasse sich nicht zu sicher führen, gibt es ein Buch: „Deutschland Dritter Klasse. Leben in der Unterschicht“ heißt es. Es erschien im Verlag Hofmann und Campe ( www.hoca.de ), Hamburg 2009. Verfasser: Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt.
Im Vorwort erklärt Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, dass der abgestürzte Klassenprimus nicht verspottet werden darf, denn jahrelang konnte er sich an der Spitze halten. Das er abgestürzt ist, ist traurig, besonders für die Leidtragenden, aber es liegt nicht unbedingt nur am Klassenprimus selbst. Manchmal liegt es auch an den Lehrern, die den Primus fallen gelassen haben. Menschen in Deutschland führen ein Leben dritter Klasse. Es stimmt nicht, wenn behauptet wird, niemand müsse in diesem Land hungern. Hunger ist für viele monatliche Begleiterscheinung. Es berichten Betroffene. Wer den Lebensalltag von H4 kennt, weiß, dass kein Bericht über Hunger, Zahlungsunfähigkeit und barfuß im kalten Regen stehen übertrieben sind. Das ist Klassenalltag. In Deutschland. Einem Land, dessen Sozialsystem mal als Klassenprimus galt. Nur die Skandinavier waren ihm ebenbürtig.
Vielleicht ist es gut, dass die Autoren des Buches keine Empfehlung für Auswege abgeben. Denn dann kann das freie Denken von Vorurteilen frei zur Rückkehr der Menschenwürde führen.