Quergedachtes: Mit konstanter Bosheit

Autor: Hannes Nagel

Schimären, Schichten und Kulturen

Früher gab es gefährliche Schriften. Sie wurden verdächtigt, die öffentliche Ordnung zu bedrohen. Die Autoren wurden verfolgt. Denken war der Versuch, den Staat zu stürzen. Revolution durch Denken gibt es zur Zeit nicht. Gäbe es sie, würde Ulrike Herrmann für ihr Buch „Hurra, wir dürfen zahlen“ verfolgt werden. Der Spiegel, wenn er außer seiner Bestsellerliste auch noch eine Umstürzlerliste führte, würde das Buch auf Platz Eins anführen. Denn es geht darin um Klassen und Schichten und eine Gesellschaft, der ein marktwirtschaftlicher Sozialstaat vorgegaukelt wird. Nur durch die Schimäre des sozialen Aufstiegs kann diser Staat seine Gesellschaft bei Laune und Fahne halten. Um die Abhängigkeit der Lebensweise von einem fremden Trugbild abzuschütteln muss nur erst einmal der Staat als Organisationsform einer Interessengruppe erkannt werden. Eine Interessengruppe ist nur eine Teilmenge der ganzen Gesellschaft. Den anderen dient die Organisation nicht, aber es sie braucht sie, um erhalten zu werden.Unter dieser Prämisse kann man verstehen, warum „Hurra, wir dürfen zahlen“ von einem Selbstbetrug der Mittelschicht spricht: Weil die Organisation die Schichten glauben läßt, sie könnten selbst einmal Teil der Interessengruppe werden. „Und sie sagten mir, wenn ich brav bin /dann werd ich dasselbe wie sie / Doch ich dacht: wenn ich ihr Schaf bin / Dann werd ich ein Metzger nie“ Das hat Bertolt Brecht im Lied vom Klassenfeind gedichtet. Am Ende heißt es: „Der Regen kann nicht nach aufwärts / weil ers plötzlich gut mit uns meint / was er kann ist: er kann aufhören / nämlich dann, wenn die Sonne scheint“.

Und darum macht die Werbung den kleinen Leuten vor, sie würden aufsteigen wollen, bis sie es geschafft haben, anstatt sich selbst klar zu machen, wo eigentlich die Interessen der kleinen Leute sind. Mit konstanter Bosheit lässt die Interessengruppe der Organisation Staat alle anderen nicht zu. Dazu benutzt sie Worte wie Chancengleichheit, dementiert schärfstens Gerüchte, es gäbe eine Zweiklassenmedizin und behandelt ihresgleichen mit Höflichkeit. Für die anderen gilt die ganze Härte der Gesetze – die von der Organisation gemacht wurden. Wenn nun aber jede Schicht eine eigene Organisationsform hätte? Die Arbeitslosen, die noch Arbeit Habenden, die Kleinunternehmer und was den Sosziologen noch einfällt, um eine ganze Gesellschaft in Gruppen Schichten oder Klassen einzuteilen? Wie könnten die Schichten der Gesellschaft miteinander existieren? Wie könnte die friedliche Koexistenz der Klassen und Schichten aussehen? Chacun a sont gout. Jedem das, was ihm gut tut. Dann müsste der Staat nicht die kleinen Leute in seine Interessenkämpfe hinein ziehen, dann könnten die Armen den Reichen gönnen und die Reichen müssten nicht nach dem letzten Hemd der Armen gieren. Ja das könnte schön sein. Ein Häuschen mit Garten. Und Blumen darin. Der Frömmste wird in Frieden leben, auch wenns der Obrigkeit mißfällt.

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