Rezension: “Wikipedia”

Wikipedia hat ein Buch über Wikipedia  aus der Sicht von Wikipedia geschrieben. Bei Egomanen heißt das Prinzip: Ich über mich aus der Sicht von mir. Wir lernen: Eine Selbstdarstellung muss nur genug penetrant sein, dann wird sie schon wieder ehrlich.

Wikipedias Anspruch ist es, das Wissen der Welt frei und für jedermann zugänglich jederzeit abrufbar zu machen. Vor diesem Anspruch an sich selbst geht Wikipedia in die Knie. Aber nicht aus Hochachtung oder Anbetung der eigenen Größe und Herrlichkeit, sondern weil die Schwäche seiner Macher es immer wieder unter der Last seiner Ansprüche einknicken läßt.

Wenn ich zum Beispiel nachlesen will, ob ein historisches Ereignis 1840  oder 1844 war, dann nützt mir Wikiepedia, weil ich das Richtige wiedererkenne, wenn ich es nachlesen kann. Aber wenn ich etwas suche über Untergrund und illegalen Widerstand, über Taktiken, Ausbildung, Schulung, dann finde ich nichts. Nicht einmal eine Literaturliste, mit der ich mich dann in der nächsten Bibliothek verdächtig machen kann.

Wenn Mitarbeiter eines Projektes in lobenden Worten Auskunft über ihr Projekt geben, wird mir leicht vor Süße übel, als wäre zuviel Zuckerguß auf dem Friedefreudeeierkuchen.

George Bush ist mir immer übel aufgestoßen, wenn er von seiner „großartigen Nation“ sprach, die einen „großartigen Job“ gemacht hatte, dabei war es doch nur Krieg, also gemeiner Mord. In dem Buch über Wikepedialeute erzählen Aktivisten der ersten Stunde, wie großartig es war, dieses großartige Projekt zu entwickeln. Sie schreiben, was Wikipedia alles NICHT ist: Ratgeber, Wörterbuch, Essaysammlung. Bei dem, was es IST, benutzen sie ein Fremdwort: Enzyklopädie.  Bedeutet Nachschlagewerk, Wissenssammlung.  Warum dieses? Warum bezeichnen sie alles, was Wikipedia nicht ist, mit mit frei verfügbaren Wörtern, aber das, was es ist, verstecken sie hinter einem Fremdwort?  Ich knurre leicht gereizt.

Das gereizte Knurren kommt vom Unbehagen: Gilt im Zweifel, was in Wikipedia steht? Bekommt Wikipedia einen Unfehlbarkeitsstatus? Haben Majestät Wikipedia die Deutungshoheit?
„Der Lehrer in der Schule / der Richter auf dem Stuhle / der Maler auf der Leinwand / die dulden keinen Einwand“. Das hab ich mal bei Walter Kempowski gelesen und nicht bei Wikipedia.

Und ich Idiot war gerade dabei, den Durchbruch zu einer genialen Abhandlung über Meinungsfreiheit, Wissensfreiheit und allgemeiner Freiheit zu schaffen. Ausgerechnet jetzt schießt das Professorenkollegium der Wikipädagogik quer.

Aber ein Gutes hat das Buch doch: Soviel Penetranz ist nämlich schon fast wieder indirekt ehrlich.

Wikipedia, „Wikipedia“, Hoffmann und Campe, Hamburg 2011, knapp 17 Euro

Dieser Beitrag wurde unter Feuilleton-Rezension, Feuilleton-Zeitgeist veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.