Vorhang auf im Meinungstheater

 Baron von Feder

Montag, 16. Juli 2012

Vorhang auf im Meinungstheater

Zuerst war es nur ein Palaver

Zwei Freunde wanderten einen Waldweg entlang. Völlig unerwartet kam ein Wildschein von links. Grunzend huschte es über den Weg und verschwand rechts im tiefen Tann. „Oh“, staunte da der eine Mensch, „das war aber ein großer Bursche“. Der andere sagte: „Groß? Der war bestenfalls mittelgroß, nichts besonderes.“ Es kam eine sich zunehmend erregende Diskussion zustande. „Groß war er“ – „Nein, eher klein“ – „Doch“ – Neien, ich sags Dir“ – „Aber das war doch mindestens ein halber Meter“ – „Quatsch, wie willstn das wissen“ — Zwei Menschen gingen als Freunde in den Wald und traten verstimmt heraus.

Abends saßen sie im Dorfkrug. Es waren viele Leute da und alle kannten sich. Als aus der Küche das Stichwort „Wildschwein“ kam (in Bezug auf auf eine fertige Suppe), brach die Diskussion wieder an. Aus dem Stichwort wurde plötzlich ein Thema. Georg Kenner, von Beruf Forscher referierte über das Verbreitungsgebiet von Wildschweinen (Westeuropa bis Südostasien), welches er selbst bereist habe. Alle Schweine auf der Reise habe er sorgfältig dokumentiert, wodurch ihm ein profundes Wissen über die Population entstanden sei. Der Jäger Ferdinand Bocksbüchs erzählte eine Geschichte von der Wildschweinjagd. Weil er mehrfach unterbrochen wurde, musste er die Geschichte drei mal erzählen, und ein und derselbe Keiler wurde von mal zu mal größer. Zum Schluss war der Keiler – ungelogen – groß wie ein Shetlandpony. Erst machten der Forscher und der Jäger ihre Anmerkungen zu den beiden Freunden, denen frühs im Wald ein Wildschwein begegnet war. Dann nahm der Rest des Publikums Anteil am Gespräch. Der Historiker Gerhard Knauff zitierte Stalin falsch. „Haut auf die Schweineschnauzen, die unsere Sowjetgärten plündern“, worauf Stadtkämmerer Frank Büdelschnitt Wolfgang Leonhard zitierte, der den Spruch in dem Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ erwähnt. (siehe Wolfgang Leonhard, „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, Reclam-Verlag, Leipzig 1990, Band 1, Seite 30). Und demnach soll es richtig heißen:“Denjenigen aber, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit ihnen in Zukunft die Lust vergehe, ihre Schweineschnauzen in unseren Sowjetgarten zu stecken“. Dem Gärtner Rosenmar Weißdorn gingen die Sowjetgärten im Kopf herum. Er sagte, man könne doch die Schweine vor den Gärten stoppen, indem man dort Fallobst, Eicheln, Kastanien und andre Leckereien serviert. „Das lass mal nicht die Polen hören“, sagte der Historiker. Glasermeister Wilfried Scheibe fragte, was Stalin mit der Größe von Wildschweinen zu tun habe, um die es hier ja wohl thematisch gehe. Drauf sagte der Redakteur Karl Hurtig vom „Modderboten“, dass dies für einen Glaser eine bemerkenswerte Frage sei, und worin denn seine Beziehungen zu Wildschweinen bestünden. Der Glasermeister wies indigniert auf seine Mitgliedschaft im Waldhegeverein „Bäume und Wipfel“ hin, der nächsten Monat im Vereinssaal tagen wolle und auch interessierte Nichtmitglieder einlüde, worauf er angesichts der sich ergeben habenden Gesprächssituation hinweisen wolle. Manche sagten nichts oder beschränkten ihre Beiträge auf zustimmendes „Joooo“, das betraf aber nicht jeden Beitrag.

Wer vieles kennt, kann einiges vergleichen

Eigentlich war alles, was sie im Dorfkrug sagten, nichts als Worte, die zu Meinungen wurden. Wie Wolken ja auch nichts anderes sind als kondensierter Wasserdampf. Wasserdampf braucht zur Wolkenentstehung Kondensationskerne; Meinungen brauchen, um gesagt zu werden, ein Stichwort. Wenn Worte zu Meinungen werden, sind sie aufgeladen: Mit Stimmungen, Bedeutungen, Nuancen, Sympathien, Antipathien, Lautstärke, Geltungsbedürfnis, Wissen, Erfahrung und Assoziationen.

Meinungen sind Äußerungen von Gedanken. Sie beziehen sich immer wertend auf das, was diesen Gedanken ausgelöst hat. Der Auslöser ist ein Stichwort. Wenn das Stichwort in einer Gesprächsrunde gefallen ist, verzweigt sich das Gespräch. Dinge, die nichts mit dem bisherigen Thema zu tun haben, tauchen durch Stichwort in den Köpfen der Gesprächsteilnehmer auf und WERDEN in dias Gespräch eingebracht. Wenn es noch gut geht, hat derjenige, der bisher gesprochen hat, nur eine Pause, bis sich die Gesprächsfäden wieder auf das Thema zurück gesponnen haben. Sonst fängt man bei Poesie an und endet bei der Entstehung des Kopernikanischen Weltbildes, zum Beispiel. Und alles bloß, weil ein poetischer Ausdruck physikalisch-astronomisch nicht in Ordnung war. Stichworte können auch winzige Bedeutungsunterschiede in den Worten sein. Einer nennt eine Hinderung in der Ausführung seiner Arbeit einen „Boykott“, ein anderer lehnt dieses Wort ab und sagt „Desinteresse“. Dabei kann man einen Boykott auch als organisiertes Desinteresse zum Nachteil des Betroffenen bezeichnen.

Manches muss man einfach aussprechen, weil es einem sonst ewig auf der Seele liegt. Dann sagt man einem anderen, was man von ihm hält, oder drückt sein Unbehagen gegenüber baulichen Landschaftsveränderungen mit nachhaltiger Wirkung aus. Wobei „nachhaltig“ nicht immer nur das positiv gemeinte „nachhaltig“ im Sinne von verantwortungsvollem Umgang mit Ressourcen sein muss, sondern auch die negative Nachhaltigkeit von irreparablen Schäden an der Natur oder nur an Teilen der Schöpfung sein kann. Im besten Sinne sind Meinungsäußerungen also Bereicherungen der Sichtweisen zu einem vorgegebenen Thema. Sie können die Sichtweisen aber nur dann bereichern, wenn man von den anderen Sichtweisen Kenntnis hat. Dazu müssen sie für jeden einsehbar sein. Das nennt man Meinungsaustausch. Wenn das Thema nur von zwei Standpunkten aus betrachtet wird, ist das Abbild – also die Erkenntnis – ziemlich grob. Je mehr Ansichten hinzu kommen, desto feiner wird das Bild. Wer vieles kennt, kann einiges Vergleichen. Zur Fähigkeit des Meinungs-Sagens gehört auch immer die Fähigkeit des Meinungs-Hörens. Zum Hören treibt den Hörer an: Das Streben nach Erweiterung des Erkenntnisgewinns. Apropos Meinungsaustausch: Austausch ist ein zwar üblicher Ausdruck, aber streng genommen falsch. Denn der Austausch besteht ja nicht darin, das Herr Müller die Meinung von Herrn Meier übernimmt und der die von Herrn Müller. Meinungsaustausch im besten Sinne bedeutet, dass die kritische Sicht von Herrn Müller und die Visionäre von Herrn Meier für alle nebeneinander stehen, so dass diejenigen, die eine Entscheidung treffen müssen, beide Sichtweisen kennen. Im Idealfall gibt es ein Zusammenleben der Meinungen. Jeder behält Wesentliches von sich, und dann noch etwas Gemeinsames für alle.

Was unter Gleichgestellten üblich ist, ist im Umgang mit gesellschaftlich Höherstehenden nicht mehr selbstverständlich. Kritik an Unternehmensführern, Behördensachbearbeitern, Leuten mit Amt (Beamten) ist nicht möglich, wenn diese nicht zuhören oder komplizierte Vorschriften erlassen, wie eine vorzutragende Sache auszusehen hat. Erklärungen der amtlichen Sichtweisen bekommt man nicht, und gegen Kritik an der Obrigkeit hat Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620 – 1688) angeordnet: „Den Untertanen ist es verboten, den Maßstab ihrer beschränkten Einsichten an das Handeln der Obrigkeit anzulegen“. Wenn man eine Entscheidung seiner Chef vor versammelter Mannschaft kritisiert, nennt er das Meuterei und und juristisch dagegen vor. Dabei ist es keine Meuterei, sondern ein gutes Mittel, gemeinsam zu einer weitaus klügeren Entscheidung zu kommen, als sie Chef alleine fällen kann. Denn da er wertet, wertet er gut oder schlecht nur nach den Ansichten seiner Interessengruppe – also nach seinem Geld und nach dem Wohlwollen SEINER Vorgesetzten. Meinungen haben das Potential, zu solchen Entscheidungen zu gelangen, die die Erfahrungen und Bewertungen aller Betroffenen berücksichtigen. Darum müssen Situationen, in denen der Meinungsaustausch stattfindet, auch so gestaltete sein, dass jeder SEINS dazu sagen kann. Die Themen müssen demnach auch so erkennbar sein, dass es jeder merkt, wenn es ihn etwas angeht. Über Rettungsschirme für Banken lässt sich kein Meinungsaustausch mehr führen, weil Teile von Interessengruppen die Meinungsaustauschsituation schon für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. Dabei wäre eine gut gepflegte Kultur des Meinungsaustausches genau das, was gesellschaftliche Interessengruppen immer mit dem Platzhalterbegriff „Basisdemokratie“ umschreiben. Sie könnten genauso gut „Dingens“ sagen, wie man es tut, wenn einem ein konkretes Wort nicht einfällt.

So ein Gedanke wird aber erst zur Meinung, wenn er in Worte gekleidet die Lippen verläßt und um die Ohrmuscheln anderer Leute schwirrt. Eine Kommentatorin brüstete sich mir gegenüber mal mit dem eitlen Ausspruch, sie könne jede Äußerung ins Negativer ziehen und auch in den schönsten und edelsten Worten eine Beleidigung erkennen. Sie weiß aber nicht, dass bereits vor ihr ein Kardinal und enger Mitarbeiter im Stab des französischen Königs Ähnliches gesagt hatte. Wenn irgendwer auch nur 6 Zeilen Text zu Papier brächte oder Gedanken zu Gehör, dann fände er bei JEDEM irgendeinen Grund, ihn hängen zu lassen. Also am Galgen hängen zu lassen, nicht umgangssprachlich. Der Mann hieß Kardinal Armand-Jean du Plessis, Duc de de Richelieu. Man kann also je nach Einstellung aus allem etwas Gutes erkennen oder etwas Arges, und auf das Arge haben sich Leute spezialisiert, die auch in einer nicht gesagten Meinung eine Beleidigung erkennen, indem sie das Schweigen als Verächtlichmachung bezeichnen, oder ein Geständnis erkennen, indem die wertende Äußerung eines andern nicht widersprochen wird. Die Kunst der Verdrehung der Worte durch willkürliche und schwer bemerkbare Änderung der semantischen Beziehungen in der Sprache treibt also seltsame Blüten und hat mit der Absicht des Rechtes auf Meinungsäußerung nichts mehr zu tun.

 Kurze Beschreibung der Gesprächsstruktur

Wenn einer zum Mittag ein Glas Bier trinkt und ein anderer kommt hinzu und fragt spitz: „Na, säufst Du schon wieder?“, dann ist das zum einen eine Frechheit. Zum zweiten ist es eine Abwertung. Üblicherweise heißt das Verb „trinken“. Wenn man ganz höflich sein will, benutzt man Wörter wie „genießen“. Drittens zeigt das Verb an, welchen Stellenwert der Angesprochene im Wertesystem des Anderen hat. Solange das eine Sache unter diesen zwei Personen ist, fühlt sich das Lästerschwein gut und das Opfer der Verbalinjurie schlecht. Nun kommt das Verb aber in die Öffentlichkeit, und da wird gar nicht mehr differenziert. Eine laut geäußerte wertende Formulierung bildet mit ihrer Wertung die Grundlage aller weiteren Meinungen. Aber das Verb bleibt stehen. Niemand stopft es dem Lästerschwein in den Mund zurück, wo es nach mehrmaligem umdrehen und Einspritzen guter Gedanken in gehobener Form wieder heraus kommt. Das wäre doch AUCH ein Meinungsaustausch oder ein Meinungsbildungsprozess.

Wenn das Wort in der Öffentlichkeit ist, kommen noch mehr Meinungsäußerungen zusammen. Wenn zum Beispiel fünf Personen miteinander reden, zum Beispiel über das Thema „Saufen“, dann haben sie bereits vergessen, wie das Thema überhaupt zustande gekommen ist. Nämlich durch eine abwertende Bemerkung, die ein Dritter aufgeschnappt hat und in die Öffentlichkeit trug, wo die aufgeschnappte abwertende Bemerkung ein Eigenleben entfaltete. Beim Reden von fünf Leuten fällt auf, dass sie es alle gleichzeitig tun wollen. Ein Zuhörer aber kann sich niemals auf alle gleichzeitig konzentrieren. Einer beginnt zum Beispiel mit einem Satz, der das Wörtchen „Das“ enthält. Er sagt: „Das ist eine Charakterschwäche“. Er bezieht sich dabei auf die Unterstellung, einer sei ein Säufer. Ein anderer sprach gerade davon , dass man es auch ertragen können müsse, wie man bezeichnet wird. Er sagt: „Das Recht regelt schon solche Empfindlichkeiten“. Für den Dritten, der nur Zuhören wollte, entsteht folgende Äußerung: „Das Recht ist eine Charakterschwäche“. Weil „das ist eine Charakterschäche“ sich auf eine Äußerung bezieht und „es ertragen können müssen“ sich auf das Recht zur Äußerung bezieht. „Haben Sie eben Charakterschwäche gesagt?“, fragt der mit dem Recht drohend. Sagt der andere ja, wird ihm das so ausgelegt, als habe der das Recht gemeint und schon fühlen sich wieder ein paar Paragraphenadepten beleidigt (Berufsehre). Sagt er Nein, wird das als Lüge ausgelegt, denn das Wort Charakterschwäche ist ja tatsächlich gefallen. So funktioniert Wortverdrehung: Diffizil – Subtil – Infantil.

 Mit dem Recht kam die Rechthaberei

Das Recht, auch unangenehme Meinungen laut zu sagen, ohne Strafe zu befürchten, begann sich nach herrschender Ansicht mit der Französischen Revolution von 1789 durchzusetzen. „Herrschende Ansicht“ ist wieder ein zwar üblicher Ausdruck, der aber insofern falsch ist, als keine andere Meinung bekannt ist. Wo nichts oder niemand beherrscht wird, kann auch nichts oder niemand herrschen. Davon abgesehen gibt es das Recht auf freie Meinungsäußerung, und es steht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Charta der Vereinten Nationen und im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, und in diesem unseren Grundgesetz ist es der Artikel 5, der die Freiheit der Meinungsäußerung garantiert, und der Absatz 2, der sie wieder einschränkt. Wenn nämlich die Meinung einen andren in seinen Rechten verletzt, dann darf der Verletzte fordern, dass der Verletzer solche Meinungen nicht mehr äußern darf. Wenn er es doch tut, muss er viel Geld pro Verletzung zahlen. Der Einschränkungsabsatz ist ein Widerspruch. Er ist unsinnig. Er ist effektiver als jede Zensur. Zensur findet per Gesetz nicht statt. Aber wozu sollte sie auch, wenn es etwas viel stärkeres zum Verhindern unerwünschter Meinungen gibt? Mit solche einem Einschränkungsparagraphen könnte weltweit die Zahl der Meinungen von 7 Milliarden auf 10 reduziert werden. 7 Milliarden Erdenbürger dürften dann nur noch das sagen, was 10 Machtgruppen gefällt. Wir dürften dann zum Beispiel sagen:

  1. Mc Donalds ist gesund.

  2. Kapitalismus schafft Wohlstand und Frieden.

  3. Scientology ist eine karikative Einrichtung.

  4. Der Einsatz demokratischer Armeen ist immer humanitär.

  5. Die Wirtschaft ist das Maß aller Dinge.

  6. Der Rechtsstaat ist heilig, weil er unfehlbar ist.

  7. An Wirtschaftskrisen ist die Armut Schuld, weil die Armen unproduktive Forderungen stellen.

  8. Die da oben verstehen mehr von der Sache als wir kleinen Leute.

  9. Ändern können wir sowieso nichts.

  10. Kritik ist linker Schund.

Und damit wir das auch richtig tun, bekommen wir die Worte gleich mit geliefert, in die wir unsere Meinungen kleiden dürfen. Nehmen wir mal andere Worte, dann verletzen wir Rechte. Die GEZ wollte mal durchsetzen, dass die von ihr eingezogenen Gelder zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur so bezeichnet werden darf, wie sie selbst es zulässt, nämlich „gesetzliche Rundfunkgebühr“. Alle anderen Formulierungen seien Schmähkritik oder etwas in der Art. Ich beziehe mich hier auf den EINEN Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 24. August 2007, an den ich mich noch erinnere: „GEZ mahnt Webseite wegen Begriff „GEZ-Gebühr“ ab“, Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung, 24. August 2007).

Im Grunde sollten alle Äußerungen ebenso straffrei sein wie die Gedanken. Die rechtsshüter müssten dann nur noch unterscheiden zwischen Meinung (erlaubt), verbale Mißstimmungskundgebung (erlaubt) und strafbaren Handlungen (nicht erlaubt). Ausdrücke können gar nicht justitiabel sein. Zur Zeit genügt es aber, wenn jemand behauptet, von einer Äußerung verletzt worden zu sein. Ich darf also Hartz-Vier-Opfer sagen, ohne dass Peter Hartz sich als Täter bezeichnet fühlt und mich verklagt. Ich darf sogar Vergleiche ziehen zwischen NS-Bürokratie und emotionaler Kälte bei der ARGE gegenüber den Schwachen und Empfindsamen in der Gesellschaft. Ich darf nur nicht sagen:“Haut das Schwein und jagt es in die Wüste.“ Oder so. Es ist eben nicht alles nur „Entweder-Oder“, sondern „Einerseits und Andererseits und Außerdem“.

 Und im Kielwasser des Meinungsrechts: Die Meinungsbildung

Die Meinungsbildung kann nicht alleine schwimmen. Deshalb braucht sie das Kielwasser der Paragraphen im Meinungs-und Äußerungsrecht. Und davon lässt sie sich mitziehen. Vom Heck des Rechts fallen ein paar Paragraphenhäppchen ins Kielwasser, von denen sich die Meinungsbildung ernährt. Das sieht dsann so aus, dass Medien ihre Aufgabe als Meinungsbildner ansehen. Sie erzeugen aber keine Meinungen, sondern Stimmungen, die als Bewertungsgrundlage für diejenigen dient, die sich eine Meinung bilden soll, und zwar nach Möglichkeit die „von Oben“ gewünschte. Dieser Prozess ist kein Alleinstellungsmerkmal der zum Beispiel gewesenen DDR, sondern in jeder Herrschaft ein gängiger Prozess. Muss ja so sein, sonst würden einem ja nicht dergleichen Assoziationen einfallen und auffallen. Wobei Ähnlichkeiten auch zufällig sein können. Das lässt sich nicht wirklich beurteilen, denn man soll ja keine Schlussfolgerungen ziehen, wenn man noch nicht alle Fakten zusammen hat. In der Praxis werden aber schon Maßnahmen besprochen, wenn noch nicht alle Fakten beisammen sind. Sie haben sie nicht alle und agieren trotzdem. So sieht dann das Niveau auch aus. Meinungsbildung kann eigentlich nur in jedem einzelnen Kopf individuell geschehen. Wenn Medien, Parteien oder PR-Berater ihr Tun als Meinungsbildung bezeichnen, dann wissen sie nicht, was sie tun. Sie bilden keine Meinungen, sondern verprügeln abweichende Meinungen, bis nur noch eine übrig bleibt. Meinungsbildung würde bedeuten, Zugänge und Hinweise zu allen Informationen zu geben, die jemand braucht, um ein Thema kompetent bewerten zu können. „Rettungschirm“, „ESM“ – ich merke bloß immer, das ich meine Meinung aus vorgeschriebenen Prämissen bilden soll, nämlich den Prämissen der Nutznießer – also kapitalistischer Banken – oder aus den Prämissen populistischer politischer Parteien oder Strömungen. Aber ich bin Selbstdenker. Wenn mir einer nur vorgeprüfte Sichtweisen erlaubt, handelt er mir gegenüber unaufrichtig. Er soll das nicht.

 Bühnenkultur für Meinungsäußerungen

Die Assoziation des Gedanken-Sagens mit einer Theaterbühne ist ja nicht neu. Radikale Politlinge verschwänden in der Versenkung, hätten sie keine Bühne, unddie Gegenseite fordert dann immer, „solchen Leuten für ihre kruden Ansichten nicht auch noch eine Plattform zu bieten“. Doch, gerade. Kein Ort ist gnadenloser als eine Bühne, auf der man auch ausgebuht werden kann. Es muss sich allerdings um ein spontanes „Buh“ handelt. Das organisierte „Buh“ von dafür bezahltem Publikum wäre eine bestellte Mißfallenskundgebung. Die merkt man. Der auf der Bühne merkt es, und das Publikum auch, wenn einer auf Stichwort reagiert und „Wir wollen Dein wüstes Geschimpfe nicht“ ruft. Und das Fußvolk immer mitten mit. Dem Publikum kann durchaus zugetraut werden, per „Buh“ oder „Bravo“ über über Thilo Sarrazin, Bankenrettung, Sozialstaat oder Telefonüberwachung Meinungen zu äußern. Wer Ohren hat zu hören, kann dann entweder die Meinungen in seine kommenden Entscheidungen einfließen lassen oder sich darüber hinweg setzen. Es geht zwischen Bühnenakteur und Publikum nur um die Bewertung, noch nicht um die sich daraus ergebende Entscheidung. Die Wichtigkeit der Meinungsaustauschkultur zeigt sich in der Fähigkeit, mit Worten Stimmungen zu erzeugen. Gute Worte erzeugen gute Stimmungen. Man muss dabei und darf auch nicht dem andren nach dem Munde reden oder sich die Dinge selber schön reden. Ehrlich muss man schon belieben, sonst geht’s nicht. Schlechte Stimmungen bekommt man leicht mit einem deftigen Schimpfausbruch von der Seele. Man kann es ja parodierend tun, dann hat man gleich die nötige Distanz zum eigenen Zorn, dem man nicht verfallen will, weil man dann keine guten Worte findet und also keine guten Stimmungen erzeugen kann. Mit Parodien aber geht es schon. Harmonische Stimmungen sind das Ziel von Verständigung und Konfiktbehebung. Wenn ein Konflikt am Scheideweg ankommt, dann muss man Meinungen sagen. Man hat durch die Art, wie man es tut, die Wahl des Weges: Entsteht eine schrille Kakophonie oder wird aus einem Gemeinschaftswerk eine beglückende Symphonie, auf die alle Beteiligten stolz sein können? Gedanken und Meinungen können durchaus unterschiedliche Wege gehen – kein Weg ist falsch, wenn sich am Ende ihrer Wege die Gedanken an einem gemeinsamen Ziel treffen. Da geht ein Gedanke durch den dunklen Wald, der andere am Strand lang, und am Ende treffen sie sich mit den jeweils eigenen Erlebnissen der Wanderung auf einer grünen Wiese, friedlich plätschern die Wellen eines Sees, und jeder Gedanke bringt etwas von seinem Weg mit.

 Am Ende war jeder geistig bereichert

Und als sie alle geredet hatten und jeder seins gesagt hatte, da zog auf einmal Ruhe im Lokal ein. Am Anfang hatten sie sich noch fast angeschrieen wegen der Größe eines Wildschweins. Jetzt wussten sie auf einmal über Verbreitungsgebiete, Zubereitungsrezepte, Ernährungsgewohnheiten, Fähigkeiten und Verhaltensweisen Bescheid. Sie wussten sogar, das Wildschweine in der Zoologie sus scrofa heißt. hatten sie alle viel mehr über Wildschweine gelernt, als sie dacht hatten. Und das kam nur, weil jeder einen Teil zu sagen hatte und keiner alles wusste. Sie spürten, das sie durch das Reden bereichert worden waren.

In der plötzlichen Stille hörten sie von draußen nur eine Nachtigall. Keiner war mehr dem anderen gram.

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