Rezension: Eine Dame in Paris

Hannes Nagel

Rezension „Eine Dame in Paris“

Freitag 26. April 2013

Eine jugendliche Alte

In meinen frühen Jugendjahren liebte ich französische Filme. Mich inspirierten hauptsächlich die Sprechweise, die Dialogführung, die Musik und die Damen. Simone Signoret und Jeanne Moreau mochte ich jedoch mehr als Brigitte Bardot. Ich mochte aber auch noch sehr viele andere französische Schauspielerinnen, weil sie mich durch Eleganz und Reife beeindruckten. Simone Signoret erwähne ich nur, weil ich sie immer mit Jeanne Moreau verwechselt habe, und Jeanne Moreau erwähne ich, weil ich sie in dem Film „Eine Dame in Paris“ sah, und das ist ein neuer Film mit einem großen zeitlichen Abstand zu den französischen Filmen meiner frühen Jugendjahre. „Eine Dame in Paris“ ist nach 20 Jahren Kinoabstinenz mein erster Film in einem Lichtspielhaus, welches dazu auch noch ein Flair bewahrt hat, wie ich es von früher her kannte. Es gab zwar keinen Gong, aber nach einer halben Stunde Filmwerbung startete der Hauptfilm. Der estnische Regisseur Ilmar Raag hat mit drei Hauptpersonen und vielen Statisten eine völlig aus dem Rahmen heutiger Sehgewohnheiten fallende Geschichte filmisch erzählt. Am Anfang friert der Blick noch in Estland. Schnee, Dunkelheit und allgemeines Grau erzeugen eine beklemmende Stimmung. Außerdem sprechen die Menschen im Film estnisch, was für Menschen ohne Kenntnis ostseefinnischer Sprachen völlig unverständlich klingt. Es gibt aber Unteritel. In dieser tristen Lage stirbt die Mutter einer estnischen Altenpflegerin, die im Herbst ihres Lebens langsam auf den Winter zutreibt. Der Tod wirkt befreiend, denn die Tochter bekommt ein Jobangebot in Paris. Sie nimmt es an und reist nach Paris. Eine grandiose bildsymbolische Überleitung erzählt es: Sie schiebt eine uralte Musikkassette in einen uralten Kassettenrekorder und hört uralte französische Chansons. Auf dem Weg nach Frankreich – also bereits am Flughafen in Tallinn – erlaubt der Regisseur der Sonne herauszukommen, allerdings nur zaghaft, damit sie sich bei Bedarf steigern kann. Der Rest ist ein Beziehungssystem zwischen Stephane, der so alt ist wie die estnische Altenpflegerin, Jeanne Moreau, deren Filmname nicht im Gedächtnis bleibt, und der estnischen Altenpflegerin. Würze bekommt der Film durch das Verhältnis der alten Dame zu dem jüngeren Stephane: Er war einmal in früheren Zeiten ihr Geliebter. Sie hätte es gerne noch so, aber er nicht. Am Ende stehen drei Menschen da, schauen sich wortlos an, ihre Blicke erzählen tausend Geschichten – und als Zuschauer fühlt man hier den Beginn einer wunderschönen reifen Menage a Trois. Und genau hier endet der Film: Abrupt, ohne musikalischen Ausklang, einfach durch die grandiosen Blicke dreier grandioser Schauspieler. Es ist, als habe Ilmar Raag mit der Schlussszene Eric Romer huldigen wollen, wie er mit dem ganzen Film Jeanne Moreau gehuldigt hat.

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