Bewegungsmelder: Initiative Verfassungskonvent

Querdenker und Aufbrecher

 Wenn „die da oben“ wüssten, wie leicht „die hier unten“ sie von ihrem hohen Ross herunter holen könnten, müssten sie vor Angst mit den Zähnen klappern. Aber „die hier unten“ wissen ja nicht, dass sie „die da oben“ mit Leichtigkeit schubsen könnten. Demokratie ist eine sehr komplexe Sache mit immer noch unbekannten Funktionen und Möglichkeiten. Mit dem Globalisierung der Wirtschaft haben sich Wirtschaftsinteressen über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gelegt. Demokratie findet in der Herrschaft von Ökonomie nicht nicht mehr statt. Pro Forma nennen sich die Staaten von Amerika bis Europa alle noch Demokratien. Aber diese Demokratien finden ohne Demokraten statt, weil die Interessen der Wirtschaft die Bürgerwillen in den Staaten ignorieren. Die Bürger selbst kommen auf den Gedanken, die Demokratie erneuern zu müssen, aber ihnen fehlt das Wissen dazu. Außerdem sind die Bürger naiv genug zu glauben, man könne regierende Rechtsbrecher zur Einhaltung der Regeln bringen, indem man die Regeln als Argument zur Verhaltenskorrektur vorbringt.

 Die Demokratie ist am Ende, aber man kann sie erneuern

 Demokratie ist nichts für Ungeduldige. Für Gernredner ist sie der ideale Lebensraum. Gernredner sind solche, die ihre eigenen Redebeiträge mit einer Zusammenfassung und Danksagung an alle Vorredner einleiten. Daher fangen demokratische Veranstaltungen zügig an und dünnen ihren Gedankeninhalt zum Ende hin immer mehr aus. Vorne sind die Ideen ein reißender Fluss, und hinten tröpfelts nur. Den Anfang des Gedankenstromes lieferte Heinz Kruse von der Hannoveranischen Bürgerinitiative „Initiative Gemeinwohl“. Kruse stelle sich als jemand vor, der in höheren Ämtern für die Entwicklung der Wirtschaft und von Machtstrukturen zuständig war – dieses auf Ministeriumsebene. Er sass also lange Zeit auf der anderen Seite des Schreibtisches, dort also, wo der Kaffee serviert wird, und nicht unten, wo es Wasser und trockene Kekse gibt. Seine Kernaussage: Politik im Großen und Verwaltung auf allen untergeordneten Ebenen des Staatsapparates geben dem Willen der Bürger systematisch contra. Sie macht es unter anderem mit dem Sprachgebrauch. Die Verwaltung benutzt Willkürbegriffe, die in keinem Gesetz stehen, und handelt danach, als wären sie das Gesetz. Sie legt damit Gesetze so aus, wie sie es möchte. Im Grunde sind alle Hartz-Vier-Bescheide über Ablehnungen von Wünschen und zur Begründung von Strafen gegen die Hartz-Vier-Opfer reine Willkürbegriffe. Parteien können gar nicht anders handeln, erklärte Kruse, weil sie lediglich Großorganisationen zur Erhaltung von Macht sind. Ein Staat mit seinen Behörden auf der Grundlage von Parteien ist ein Parteienstaat, der untauglich geworden ist. Es geht offenbar nur noch um Machterhalt, aber die Macht lässt sich nur durch ständigen Rechtsbruch erhalten. Daher lautet Kruses Lösungsvorschlag: Bürgerliche Selbstverwaltung, Übergang vom Protest zur Aktion und Erprobung neuer Formen der sozialen Absicherung. Selbstverwaltung geht sofort. Es braucht nur jeder vor seiner eigenen Haustür zu kehren – vorausgesetzt,, er hat eine. Wer eine durch Arbeit lösbare Aufgabe sieht, möge sie durchführen und sich seine Mitarbeiter besorgen. Das hat Kruse zwar nicht gesagt, aber er wurde so verstanden. Nur zu den neuen Formen der sozialen Absicherung fehlen der Initiative Verfassungskonvent nach wie vor konkrete Ideen. Oder sie kamen einfach nicht zur Sprache. Denn es wurde viel geredet. Da geht manches unter.

 Szenarien einer künftigen Demokratie

 Vor dem Übergang vom Protest zur Aktion muss jedoch irgendwie ein Handlungsplan her. Den stellte Erich Visotschnig vor, indem er einen utopischen Entwurf namens „Das Lexikum“ vorstellte. Lexikum ist abgeleitet vom lateinischen Wort für Gesetz, und daher muss man viel zu lange überlegen und viel zu viele Erklärungen aufnehmen, um das Wesen des Lexikums zu begreifen. Es ist eine Computerwolke, in die jeder seine politischen, gesellschaftlichen oder sozialen Wehwehchen eingeben kann. Die Wolke sortiert die Wehwehchen, stellt dann vorgeschlagene Lösungen daneben und läßt jedem Computernutzer die Möglichkeit, über die Vorschläge abzustimmen. Das Abstimmungsverfahren soll aber nicht nach dem Prinzip der Stimmenmehrheit geschehen, weil dann alle anderen klugen Gedanken vernachlässigt werden. Das Abstimmungsverfahren hat bereits einen (Marken)Namen und ist als „systemisches Konsensieren“ bekannt – ein Wort, welches dringend einer Vereinfachung bedarf, damit wirklich jeder auf Anhieb weiß, wie es geht. Es muss ein Alltagswort und eine Alltagsmethode werden. Wenn es mehr als zwei unterschiedliche Vorschläge zur Lösung einer Aufgabe gibt, kann man entweder einen Mehrheitsbeschluss fassen und der Wille der Mehrheit darf sich dann über die Interessen der anderen hinwegsetzen, zum Beispiel darf man dann Landebahnen für Flugzeuge bauen und hierfür unnütze Apfelplantagen roden. Mit systemischer Konsensierung hätten alle beteiligten den Lösungsvorschlägen sogenannte Widerstandspunkte vergeben können. Zehn Punkte hieße: absolut dagegen, Null Punkte hieße: macht was ihr wollt, ist mir egal. Einer der Punkte hätte im Idealfall den geringsten Widerstand aller Abstimmer bekommen und wäre dann laut Beschluss die anzuwendende Lösung des Problems. Die Methode könnte in lokalen Entscheidungsprozessen benutzt werden, wo Bürgerwille und Wirtschaftswille miteinander in Konflikt geraten. Das Konsensieren – von Konsens, „Die Übereinstimmung“, abgeleitetes Verb mit der Bedeutung „eine Übereinstimmung herbei führen“halten die erfinder für einge gute Alternative zur Mehrheitsdemokratie.

 Verfassungsänderung oder Verhaltensänderung?

 23 Millionen Menschen sollen in Deutschland in unterschiedlichen Bürgerinitativen engagiert sein, sagte der Pädagoge Josef Hülkenberg. Hülkenberg ist Verfasser von Büchern zum Thema „Abseits vom betreuten Denken“. Betreutes Denken ist ein Begriff aus dem Kabarett und also ein Volltreffer. Schließlich will man ja auch mal quer denken, ungewöhnlich denken oder überhaupt denken. Beim Denken stört ein Vormund nur. Niemand weiß, wie viel Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen es gibt. Sie thematisch zu sortieren ist fast ebenfalls unmöglich. Die einzige sichere Aussage über den Stand der Bürgerinitiativen in Deutschland ist die Behauptung, dass sie einen unschätzbar reichen Pott mit vielfältigen Meinungen bilden. In diesem Pott tummeln sich Kaninchenzüchter, Autobahngegner, Atomdemonstranten, Befürworter von Bauprojekten und Gegner davon, und es tummeln sich Nichtregierungsorganisationen, die versuchen, auf politischer Ebene zu wirken. Bei allen taucht der Gedanke auf, dass es Volksentscheide geben sollte. Bei vielen taucht dert Gedanke auf, dass dazu in Deutschland das Grundgesetz nach Artikel 146 durch eine Verfassung ersetzt werden muss, die dann ausdrücklich das Recht auf Volksentscheide als Verfassungsgrundrecht enthalten sollte. Und an diesem Punkt scheiden sich die Geister. Die Initiative Verfassungskonvent wählte das Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin als Treffpunkt der Beratung. Sie hatte alle Nichtregierungsorganisationen eingeladen, die im selben Haus ein Büro betreiben. Keiner kam. Also waren es die Initiative Verfassungskonvent, die Initiative Regionaler Aufbruch, die Initiative Gemeinwohl Hannover und Occupy Money sowie mehrere Einzelpersonen, die klären wollten, wie denn das Grundgesetz der BRD auf der Basis seines Artikel 146 zur Verfassung erhoben werden kann UND wie gleichzeitig Strukturen jenseits von Parlamenten entstehen, die den Bürgern UNMITTELBAR die Möglichkeit geben, zu bewegenden Themen einen Bürgerwillen auszudrücken. Binnen einer Woche will die Initiative Verfassungskonvent hierzu eine Erklärung abgeben, die in bekannter Traditionen politischer Verlautbarungen den Namen „Berliner Erklärung“ bekommen soll. Was meinen Sie wohl, was das für ein Tanz war, bis 35 Demokraten sich auf einen solchen banalen Begriff einigen konnten.

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