Rezension „Die große Regression“
„Vorwärts zurück von der Zivilisation in die Barbarei“
[Zeitgeist, der] könnte in einem Wörterbuch ein Stichwort sein, dem zur Erklärung die Phrase „geistige Situation der Zeit“ beigefügt wird. Die „geistige Situation der Zeit“ ist aber auch Gegenstand einer internationalen Debatte, die gerade im Suhrkamp-Verlag erschien. Der Gegenstand trägt die Überschrift „Die große Regression“. Regression ist damit der Inhalt des Zeitgeistes der Jetztzeit. Wäre auf dem Cover nicht noch das Piktogramm einer Gangschaltung eines PKWs mit einem in Alarmrot gehaltenen Rückwärtsgang würde das Wort „Regression“ wahrscheinlich nicht ausreichen, um mehr Menschen als nur Fremdwörtermeister und Fremdwörtergesellen zum Lesen zu bewegen. Die 15 Autoren der internationalen Debatte sind allesamt im Fremdworthimmel aufgewachsen. Wir hier und alle anderen auf dem kummervollen, zuweilen auch freudvollen Boden der Tatsachen müssen öfter mal im Wörterbuch nachschauen. Frei übersetzt scheint eine Regression als ein Rückwärtsgang in der Entwicklung von menschlichen Gesellschaften zu sein. Schlimmstenfalls sogar ein Rückfall von der Zivilisation in die Barbarei. Das Gegenteil wäre Fortschritt, fremdwortlich auch „Progression“ genannt.
Der Rückwärtsgang wird im Vorwort durch den Eindruck beschrieben,
„als fiele die Welt plötzlich hinter hart erkämpfte und für sicher gehaltene Standards zurück.“
zum Beispiel Frieden in Europa und ein Stück weit Wohlfahrtsstaat auch für die Angeschmierten der kapitalistischen Gesellschaften. der Rückfall kann allerdings nicht so plötzlich gekommen sein wie beschrieben. „Plötzlichkeit“ passt auf den Wintereinbruch in Moskau, von dem dann immer alle überrascht sind und deshalb nicht rechtzeitig die Straßen vom Schnee beräumen können. Politische Entwicklungen kommen schleichend und deuten sich an, aber sie sind niemals wirklich überraschend. Und man kann den Rückfall fast überall sehen:
„Man könnte die Liste der Symptome des Rückfalls fast beliebig verlängern“ (Seite 8),
und zwar so weit, bis man dahin gekommen ist, wo alles seinen Anfang nahm. Dem Vorwort zufolge begann der Rückfall der Zivilisation mit dem Beginn von Neoliberalismus und Globalisierung. Es ist fast ein politischer Treppenwitz, dass der Rückgang der Zivilisation ausgerechnet mit dem Untergang der stets verteufelten kommunistischen Idee und ihrer realen Ausformung des sozialistischen Lagers begonnen haben soll. Es ist unvermeidlich, dass bei der Datierung des Rückfalls der Zivilisation auf die zunehmende, überwunden geglaubte Gewalt verwiesen wird, die Francis Fuckyouyama in dem Buch „Das Ende der Geschichte“ nicht vorhergesehen, sondern angekündigt hat. Fuckyoyama schreibt darin, dass es mit dem Untergang des Sozialismus nur noch um die Freiheit für die Märkte gehen würde. Menschen wären in diesem System nur glückliches Humankapital, welches keine anderen Interessen hat, als Kapital zu sein und sich selbst zu rentieren. Das führt zu folgendem Ergebnis:
„Möglicherweise ist die große Regression, die sich derzeit beobachten lässt, das Ergebnis eines Zusammenwirkens von Globalisierungs –und Neoliberalismusrisiken.“
Die Texte der 15 Autoren des Buches bestätigen auf jeweils ganz eigene Art und Weise die These, dass der Neoliberalismus einerseits eine Art „Endzeitaufstellung“ für die Erringung der globalen Wirtschaftsdominanz vorbereitet und diese Vorbereitung andererseits gerade an den zunehmenden Migrationsbewegungen weltweit abgelesen werden kann. „Die fliehenden Herden in der Savanne künden von einem gewaltigen Buschbrand“, könnte man sagen.
Und es sind nicht die fliehenden Herden, die den Brand gelegt haben, und von den fliehenden Herden geht auch keinerlei Gefahr aus. Im Gegenteil. Je kosmopolitischer eine Gesellschaft von Bürgern unterschiedlicher Berufe und unterschiedlicher Einkommen ist, desto stabiler ist sie gegenüber neoliberalen Zersetzungsversuchen.
Angst vor Migration ist daher nur etwas für Leute mit nationalstaatlichen oder nationalethologischen Vorurteilen. Und beides ist ziemlich dumm.
Man sollte dieses Buch zum gesellschaftskundlichem Lesestoff jeder Abschlussklasse in den Schulen machenund auch dort anpassen, wo Schulbildung immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.
Heinrich Gekiselberger (Hrsg), „Die große Regression“, Suhrkamp, Berlin 2017