FEUILLETON-REZENSION: Lebensbahnen

FEUILLETON-REZENSION

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„Lebensbahnen“

Voraussichtlich im Frühjahr erscheint im Musenverlag das biographische Doppelporträt von Anatol Fabulirowitsch Poet und Nikolaus von Lemberg-Kolovratsky. Der Chronist Max emanuel Strelitz hatte schon seit längerem Spuren und Andeutungen des deutsch-polnischen bzw. polnisch-litauischen Kollegen gesammelt und verfolgt, um nun die erste Doppelbiographie vorzulegen. Dabei stieß er auf die methodische Anwendung der Theorie vom Luftzug zwischen zwei Zeitfenstern, durch die es möglich wurde, Ort-und zeitdiagramme samt biographischen Momentanangaben zum Alter aller für ein Ereignis relevanter Personen übersichtlich in einer Zeitstrahl-Alter-Handlungstopographie darzustellen. Auf einen Blick erkennt man darin, wer außer dem Protagonisten an einem bestimmten Datum oder einem bestimmten Jahr oder einem von zwei Jahresangaben bestimmten Zeitfenster an einem bestimmten Ort war und welches Alter, welchen Beruf, welche Funktion jeder von ihnen innehatte. Insbesondere kann man aus diesen Diagrammen ablesen, wer mit wem persönlich bekannt war und wer sich gegebenenfalls auf wen bezieht, um einer Ansicht, einer Beschreibung oder einer verallgemeinerten Aussage Nachdruck zu verleihen.

Im Detail stellt Strelitz die Lebensbahnen seiner Protagonisten wie folgt dar:

Ausser einem Nachlass, der wie vorbereitet für kommende Forscher gestaltet ist, gibt es fast nichts und zugleich eine Fülle von Lebensereignissen, die die Biographie von Anatol Fabulirowitsch Poet prägen. Wenn man bedenkt, dass Anatol Fabulirowitsch Poet nur 77 Jahre alt wurde, so macht die Summe der prägenden Lebensereignisse für den Dichter, Wanderer, Tagelöhner und Liebesfreund im Durchschnitt drei Jahresereignisse zwischen seinem 16. Lebensjahr und dem Jahr seines Sterbens aus. Diese Zahl, so ergaben die Berechnungen des ersten Biographen Anatol Fabulirowitsch Poets, Nikolaus von Lemberg-Kolovratsky, betrug 183. Er hat sie alle in seinem Essay „Lebensbahnen“ zusammengefasst.
Lemberg-Kolovratsky kam den Forschungen von Feders zufolge 1825 am 21. Mai in Lemberg zur Welt. Die Geburt verlief unruhig, weil während des Gebärvorganges militärische Reiterabteilungen die Alte Poststraße entlang nach Westen zogen, wo sie der zeitgenösischen Propaganda zufolge „Blümchen pflücken mit den Österreichern“ wollten. Zugleich ritten Leute aus dem Westen die Alte Postraße entlang, die ganz im Sinne einer Heilserwartung illusorische Erwartungen an ihr Ostlandabenteuer knüpften. Strelitz leitet daraus ab, dass „Ostlandabenteuer mit klirrendem Schwert“ immer misslingen. Seines Dafürhaltens wäre eine weltbürgerliche Handels-und Kulturgemeinschaft im Sinne Immanuel Kants und Gotthold Ephraim Lessings eine gelegentlich mal in Erwägung zu ziehende Bildungsübung. Strelitz bezieht sich bei Kant auf den „Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden“: „Das Weltbürgerrecht soll auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“
Die Allgemeine Hospitalität bedeutet Gastfreundschaft gegenüber jedem auf der Grundlage des „Gebens und Nehmens“, also eines Austausches von Wissen, Können und Kultur. Denn niemand hat a priori alles, so dass ihm ein anderer unnütz sei. So interpretiert Strelitz den Dritten Definitivartikel. Den Bezug zu Lessing stellt Strelitz klassisch mit dem Bezug auf die Ringparabel in dem Drama „Nathan der Weise“ her: „Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach“.
Anatol Fabulirowitsch Poet und Nikolaus von Lemberg-Kolovratsky kannten sich nicht persönlich. Am 16.12.1809 starb Anatol Fabulirowitsch Poet in dem gleichen Dorf, wo er 77 Jahre zuvor zu Welt kam. Sein literarisches Werk umfasst den Gedichtband „Ganz & gar vernymphtig“, die Erzählungen „Murmeln in der Hosentasche“ und „Das Fabulantenfloss“ sowie die Tagebuchsammlung „Texte fürs große Brimborium“. Nikolaus von Lmberg-Kolovratsy starb 1913 im Alter von 88 Jahren. Sein Lebenswerk umfasst vor allem die Poet-Biographie „Lebensbahnen“ und die Geschichtstheorie „Zeitfenster und Zeitzeugen“. Mit dieser Theorie wollte Lemberg-Kolovratsky zeigen, ob und wie gut sich Menschen kennen, die durch ganz bestimmte Zeitfenster blicken. Vor allem wollte er zeigen, wen die Zeitzeugen hätten sehen müssen. Soweit der Forschung bekannt ist, hat Nikolaus von Lemberg-Kolovratsky einen Band mit 99 Gedichten geschrieben. Die Gedichtsammlung hat er im Selbstverlag 1892 unter dem Titel „Sternenlieder“ veröffentlicht. Eines enthält die berühmt gewordenen Zeilen:

„Wenn Zeit dem Raum am Ende der Geraden
auf sanft geschwungner Bogenbahn begegnet
dann trifft die 47 auf die 7 nach Dekaden
weil die sakrale Mitte alle beide segnet.“

Zwischen dem Tod des Einen und der Geburt des Andern befand sich ein 16 Jahre offenes Fenster, durch welches der Forscher Max Emanuel Strelitz blickte, um den Nachlass des Einen und die Konstellation der Eltern des Anderen zu beobachten. Er trug alle ihm bekannt gewordenen Quellen für Werk und Treiben seiner Protagonisten zusammen und verband sie mit der Überleitungsmetapher von der Zugluft zwischen zwei geöffneten Fenster. Das erste Fenster ist jenes von Anatol Fabulirowitsch Poet. Von 1732 bis 1809 reichte es. Je mehr sich der Forscher nach Ortsmarken und Zeitzeichen umsah, desto näher kam er seinem zweiten Protagonisten Nikolaus von Lemberg-Kolovratsky. Für Max Emanuel Strelitz fühlte es sich an, als befände er sich in einer Sternwarte und würde mit einem Fernrohr die jeweiligen Lebensläufe der beiden Dichter verfolgen.

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