FEUILLETON-REZENSION: Der Themenspiegel

FEUILLETON-REZENSION

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„Der Themenspiegel“

Irgendwo war mal ein politischer Gefangener, dem sie aus der Morgenzeitung alles rausgeschnitten hatten, woraus der Gefangene Rückschlüsse auf die tatsächlichen Gegebenheiten ziehen konnte. Denn was ihm zu Lesen übrig gelassen wurde, empfand der Gefangene als Lüge. Mit deser Zeitung, die sie ihm gaben, wuchs die Zahl der heraus geschnittenen Textstellen. Durch die Mottenlöcher im grauen Vorhang der Propaganda fingerten sich die Lichtstrahlen der Wahrheit. Sie sagten: „Die Fakten kennen wir auch nicht, aber wir erkennen, was nicht stimmen kann.“ Da dachte der Gefangene: „Jede Aussage läßt immer etwas weg, was sie nicht aussagt.“ Müde gähnte die Philosophie.

Welche Informationen kann man aus einer weglassenden Zeitung entnehmen? Dem Gefangenen wurden alle Informationen aus der Zeitung weggeschnitten, die ihn in seiner Einstellung hätten bestätigen können. Drin gelassen in der Zeitung hatte „Das Regime“ in der Persona seiner zuständigen Aufsichtsbehörden nur die eigenen Lobhudeleien und Selbstbeweihräucherungen. Das war ein noch ziemlich plumpes Informationsblasenmanagement, welches dem politischen Gefangenen im Orte Irgendwo zur Zeit Irgendwann zugemutet wurde. Immerhin konnte er auch in Gefangenschaft wahrnehmen, dass sich im Lager auch Kriegsgefangene befanden. Ohne mit ihnen sprechen zu können, konnte der Gefangene die Beobachtungen über Kriegsgefangene mit den weggelassenen Stellen der Zeitung vergleichen. Je mehr die Zeitung wegließ, desto mehr ahnte der Gefangene, dass die Amis von Wesen und die Russen von Osten immer dichter an die Reichshauptstadt gerückt waren. Anekdoten sagen, dass es sich bei dem Gefangenen um den aus Hamburg stammenden KPD-Politiker Ernst Thälmann handeln.

Heutzutage brauchen Propagandisten, Manipulateure und Ideologen keine Zensurbehörde mehr. Heute reichen: Multiplikatoren und Follower. Follower sind sozusagen die Nachfolger der Multiplikatoren, die es zu Anfang des Internets gab, wo Webseitenbetreiber aus Mangel an selbstrecherchierten Geschichten Pressemitteilugnen von Vereinen, Verbänden, Unternehmern oder Künstlern ungeprüft übernahmen. „Hofberichterstattung“ war das. Die Themenvielfalt begann ziemlich schnell zurück zu gehen wie der Schnee in den Alpen, das Eis an den Polen, der Wald, wenn die Firma TESLA Platz für eine Autofabrik braucht oder Dörfer, wenn die Braunkohlebagger ihre Schaufeln an den Gemarkungsgrenzen anzusetzen beginnen. Multiplikatoren hießen bei Kritikern Nachplapperer; bei Followern sind Bezeichnung und Kritikbegriff ein und dasselbe Wort: Follower. Jemandem zu folgen sollte das deutsche Beispiel zu denken geben. Führer befiehl, wir folgen dir. Campaign, rufe auf – wir unterschreiben jede Petition, auch die, die nur Eure Eigeninteressen widerspiegeln.

In den sozialen Medien findet fast jeder Schmitt genug Leute, die mitten mit, mit dem Schmitt ziehen wollen, wohin auch immer. Kennen Sie das schöne Liedchen von Kurt Tucholsky: „Und denn alle wieder mit, mitten Schmitt mitten mit, und denn alle wieder mit, mitten Schmitt“?

Früher hatte nur der was zu sagen, der entweder Experte war oder Verantwortungsträger. So begrüßenswert das Recht auf Meinungsäußerung ist: Für das, was man sagen will, braucht man eine gewisse Kompetenz. Die Polit-Praktikanten der AfD zum Beispiel haben keine gesellschaftliche Kompetenz und sollten solange die Klappe halten, bis sie fachliches Wissen erworben haben. Ein Student im ersten Semester kann auch nicht die Tatsache, dass er den Professor nicht versteht, dazu heranziehen, dieses Unverständnis als Fehler des Professors darzustellen. („Der Prof. ist ungeeignet für sein Fachgebiet, denn er redet unverständlich“)

Womit das Thema Corona erreicht wäre. Es sagen viele etwas: Virologen äußern sich zum Forschungsstand, Gesundheitsbehörden haben öffentliche-rechtliche Aufträge und müssen nun Maßnahmen ersinnen, die helfen, das ein Gleichungssystem mit sieben Unbekannten kein Unheil anrichtet. Das Problem: Die Maßnahmen müssen eventuell schneller da sein als das Gleichungssystem gelöst ist. Da ist ein bisschen „Glücksspiel“ mit dabei. Bei einer nicht streng mathematischen Stichprobe zeigte sich signifikant häufig, dass These A und These B gar nicht den gleichen Aspekt eines komplexen Zustands betrafen, sondern verschiedene. Was aber blieb bei Informationswilligen hängen: einer sagt so, der andere so, und keiner sieht mehr durch. (siehe hierzu „Gespräch mit einer nachrechnden Leserin“)

Entweder ist eine Nichterforschung auf dem Niveau heillosen Geschnatters verantwortungsloser Wahnsinn, oder der Wahnsinn hat Methode, und diese Methode heißt wie immer und auch am Beispiel der herausgeschnittenen Informationen in der Zeitung, die der Gefangene lesen durfte, Manipulation. Manipulation hat durch die Vorarbeiten von Kommunikationswissenschaften, PR-Journalismus, Campagnenjournalismus nun in den Möglichkeiten der Sozialen Medien eine Wirkungsmöglichkeit erreicht, die selbst das früher hilfreiche Lesen zwischen den Zeilen erschwert. Es hilft nichts: Um Manipulationsabsichten zu erkennen, muss man Texte auseinander nehmen. Kommen Wertung und Behauptung samt Handlungsaufforderung ohne Herleitung durch den Text daher, dann erkennen Sie meistens eine Campagne, welche Sie aufforfert, jetzt zu spenden, weil die Regierung eine unverantwortliche Entscheidung getroffen hat, die das Gemeinwohl gefährdet. So oder ähnlich klingen diese Sätze, und jetzt wollen Sie zu Recht Beispiele lesen:

Campact 30.5.2020:

Schweinehaltung in engen Kastenständen – das ist Tierquälerei. Agrarministerin Julia Klöckner will die furchtbaren Gitter-Boxen für weitere 17 (!) Jahre erlauben. Die Grünen können das im Bundesrat verhindern – leider denken sie aber über einen schlechten Kompromiss nach. Bitte unterzeichnen Sie jetzt unseren Appell! Die Öko-Partei darf nicht still und heimlich weiteres Tierleid ermöglichen.

Lobbycontrol 28.5.2020

Wir haben eine Chance, Merkel und Altmaier jetzt zum Ziehen der Notbremse zu bewegen. Denn auch innerhalb der Bundesregierung rumort es. Und sogar innerhalb des traditionell besonders autofreundlichen Kanzleramts macht sich Unbehagen breit: Das Kuscheln mit der Lieblingslobby könnte eine Grenze überschreiten, die besser unangetastet bliebe. Sagen wir es klar und deutlich: Ja, die Grenze ist überschritten!

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