Zeit und Mensch sind wie ein Zopf verflochten

Zeit und Mensch sind wie ein Zopf verflochten

 

Für Kenner von M usik und Musikgeschichte ist Waldemar Meyer der bedeutendste deutsche Geiger. Sein Talent bildete sich teils in der Stille, teils bei seinem Lehrer Joseph Joachim. Zwei Leben, zwei Fäden. Beide verflochten mit weiteren Lebensfäden. Den ganzen Zopf beschreibt die Enkelin von Waldemar Meyer in einem faszierenden Buch.

 Hannes Nagel

Immer, wenn ich von Berlin-Alexanderplatz Richtung Hauptbahnhof und darüber hinaus fahre, entsteht in meinem Kopf eine immer gleiche Gedankenkette, die nur im Detail mehr und mehr ausgeschmückt wird.

Die Gedankenkette fängt mit Alfred Döblin an. Dann verweilt sie kurz bei Alex und Willi Humboldt. Von den beiden geht sie zu einem Herrn Hegel, den ich gar nicht mag, der drängelt sich immer auf, und am Ende der Kette tanzt der Zeitgeist auf der Schnur, die schon die andern Assoziationen hält. Jedes mal wünsche ich mir dann, mein Geist wäre groß genug, um von solch großen Geistern beachtet zu werden. Aber meist wird er übersehen.

Am liebsten wäre es mir, auch mal große Geister der Gegenwart zu treffen. Dabei ist es ganz egal, auf welchem Gebiet jemand ein großer Geist ist. Man trifft ja nicht den Geist an sich, sondern den Menschen, der ihn verkörpert. Wichtig wäre jedoch, dass es zwischen dem Geist und seiner Wirkungsstätte einen lokalen Bezug gibt. Denn wo Zeit und Raum zusammen hängen, ist der Genius Loci zugleich der Zeitgeist dieses Ortes.

Neulich war es mal wieder so weit. Ich wollte von Berlin nach München fahren. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof kamen die üblichen Assoziationen – Hegel, Humboldt, Schinkel, Zeitgeist – und dann saß ich im Abteil. Eine Dame mit der Ausstrahlung einer Salondame des 19. Jahrhunderts unterhielt sich mit einer jüngeren Frau über Musik, Musikgeschichte und die Verflechtungen von persönlichen Biographien mit der Zeitgeschichte. „Das ist alles verflochten wie ein Zopf“, hörte ich die Dame mit der zeitlosen Eleganz sagen. In mir sagte jemand oder etwas „Zeitgeist“ und hörte zu. Es kam heraus, dass die Dame Frigge Marie Friedrich heißt und ein Buch geschrieben hat. Es ist ein besonderes Buch, denn es hat im klassischen Sinne keinen Titel. Ein klassischer Titel heißt vielleicht „Konzert für die linke Hand“, ist ebenfalls eine Biographie und stammt von Lea Singer. Dieses Buch beginnt anders: Links oben das Bildnis eines bärtigen Mannes mit Geige. Rechts daneben steht: Joseph Joachim, der Meister der Geige, größter Beethoven-Interpret seiner Zeit und sein erster Schüler. Rechts unten ein junger Mann ebenfalls mit Geige. Links daneben steht: Waldemar Meyer, der von England königlich mit der King George Stradivari Beschenkte.

Unter beiden Bildern steht: Fesselnde Biographien eingebettet in die spannende Zeitgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Berlin, England und Europa.

Sagen Sie selbst, haben Sie schon mal ein Buch gesehen, das ohne Titel schon auf dem Cover medias in res geht?

 

 

Ich weiß nicht, warum der Redefluß von Frigge Marie Friedrich noch ein paar Stunden nach ihrem Aussteigen aus dem Zug weiter wirkte. Ich weiß aber, dass die Lektüre des Buches ebenfalls und eigentlich genauso weiter wirkt. Die Lektüre macht einfach Lust auf Kultur. Auf Salonkultur. Auf eine Reise durch die Zeiten und auf Begegnungen mit dem jeweiligen Zeitgeist – von den geistlosen Zeiten abgesehen, die es in der Geschichte eben auch gibt. Aber bevor die geistlosen Zeiten kamen, ging offenbar ein verschwenderischer Geist durch die Sphäre der Kultur. Die soziale Sphäre wird in Frigge Marie Friedrichs Buch ausgeklammert – wohl weil die Familien ihrer Vorfahren keine Berührung damit hatten. Welch ein sorglose Glück das sein kann, weiß man zu schätzen, wenn man es auch anders erlebt hat. So etwas kann tief sitzen wie ein Trauma. Mit Anmut, Mühe, Leidenschaft und Verstand ging verschwenderisch um, wer nicht tagtäglich mit existentiellen Sorgen zu kämpfen hatte. Und alles verwob sich wie ein Zopf. In dem Buch der Autorin sind es die Lebenslinien einer Musikerfamilie mit den Lebenslininen einer Architektenfamilie – in Berlin sieht man dies nach Ansicht der Autorin an den Räumen, die die Architektur der Musik geschaffen hat. Denn wenn das Sein keinen Ort hat, schwebt es zeitlos im Nichts.

Das schönste an dem Buch ist die einfache Erzählweise. Man kann, so zeigt das Buch, eine Meinung auch ohne missionarischen Überzeugungseifer darlegen und Das ist wieder ganz musikalisch: Ich kann ins Konzert gehen und Haydn hören, auch wenn ich viel lieber Händel höre. Und wenn ich Haydn statt Händel nicht ertragen kann, kann ich auch zu Hause bleiben oder in den botanischen Garten gehen.

 

Frigge Marie Friedrich, „Fesselnde Biografien in die spannende Zeitgeschichte…“, ISBN: 978 – 3- 938754 – 12 -2, Verlag Creativ Studio F.M.Friedrich, Starnberg 2008

 

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