REZENSION: „Allmähliche Revolution“
Mittwoch, 03. Februar 2010
Von Marx und Hegel zu Hartz mit Menschenwürde
Vielleicht nützt es Herrn Koch oder Frau von der Leyen, Rainer Thiels Buch „Allmähliche Revolution“ zu lesen, bevor die eine von Arbeitsmarktreform spricht und der andere von Zwangsarbeit für Hartz-Vier-Opfer. Denn das Buch hat Tiefgang und ist dennoch in einen unterhaltsamen Stil gewandet. (www.thiel-dialektik.de) Rainer Thiel denkt quer zum angelernten gesellschaftlichen Schubladen-Wissen. Darum gelangt er am Ende seines Denkprozesses auf bislang unbeschrittenem Weg von Marx und Hegel zu Hartz Vier mit Menschenwürde (zur Zeit Utopie). Marx hatte das Ende der Arbeit voraus gesehen, was eigentlich gar nicht so schwer war. Mit dem Verschwinden der Arbeit ist aber auch die Menschenwürde verschwunden. Da fehlte wohl dem Kapitalismus die Folgenabschätzung, die er bis heute nicht gelernt hat: Erderwärmung, Abholzung von Wäldern, noch mehr Straßen und aller Orten wabert das Trugbild Wachstum, Wachstum, Wachstum. Wenn also keine Arbeitsplätze entstehen können, muss das Ziel politischer und auch gesellschaftlicher Tätigkeit in der Rückkehr der Menschenwürde bestehen. Genial. Lasst uns mal innehalten.
Der Querdenker Thiel geht von zwei Punkten los: von der philosophischen Vorstellung, dass aus Quantität eine neue Qualität entsteht. Mit eigenen Worten ausgedrückt ist diese Vorstellung in dem Vorgang der Entstehung von Braunkohle enthalten. Es bedarf einer ausreichenden Menge abgestorbener Pflanzenteile (Quantität), hohen Druck und zigtausende Jahre Zeit (Prozess) und dann auf einmal ist Braunkohle da. Hat einen viel höheren Heizwert als im Walde gesammelte Hölzgen (neue Qualität). Und dann nähert sich Thiel seinem Thema aus der Sicht des Sprachgebrauches und der Kommunikation. Verschiedene Gruppen von Menschen meinen mit ein und demselben Wort verschiedene Bedeutungen. Das ist die Grundlage von Meinungsvielfalt. Angehörige verschiedener Gruppen, zum Beispiel Bürger und Behördenvertreter, können zwar den gleichen Begriff benutzen, aber etwas völlig verschiedenes meinen. Fragen Sie mal ein Hartz-Vier-Opfer, was es unter Menschenwürde versteht, und dann einen Vertreter des Staates, am besten einen Juristen, denn das Land hat den Qualitätssprung vom Rechtsstaat zum Juristenstaat schon geschafft. Im Idealfall führt vielseitige Sprache dann auch zu vielfältigen Meinungen, diese zu Kommunikation und was hätten wir, wenn die Menschen sich verständigen würden, statt übereinander zu reden oder aneinander vorbei? Bildung, Kultur, „gelöste“ soziale Probleme – bis dann das nächste kommt, aber das ist normal. Nicht normal aber ist es, dass sich die Wirtschaft wissentlich neu verschuldet, Menschen gegen ihren Willen verschuldet werden, dass Armut zunimmt und die Mitglieder der Gesellschaft zu Pflichtabonnenten der Werbewirtschaft degradiert werden. Es ist nicht normal, wenn Menschen, die sich dieser Mühle entziehen wollen, dem Staat suspekt sind. Man kann nicht einerseits versuchen, sein Leben ohne Abhängigkeit von Transferleistungen des Staates zu gestalten und dann gezwungen werden, soziale Leistungen zu beanspruchen, um dann vom Staat drangsaliert und beschimpft zu werden, weil man Leistungsempfänger ist. Nun wissen Sie auch, wieso hier im Blog fast durchgehend von Hartz-Vier-Opfern die Rede ist. Unnormal ist es, wenn die Beteiligten alle so weitermachen wie bisher.
Obwohl: Eines Tages schlägt das um. Dann erreicht die Gesellschaft eine neue Qualität. Möge sie etwas geistreicher sein als derzeit.
Bis dahin lasset uns lachen. Über Koch und Co. und alle die.
Titel: Allmähliche Revolution Autor: Rainer Thiel www.thiel-dialektik.de ISBN: 978-3-897006-657-1 Preis: 22,00 Euro