Rezension: “Was lange gärt, wird Wut”

Hannes Nagel

Was lange gärt, wird Wut

Erst jetzt ist eine Schrift in den Blickpunkt des Feuilletons größerer Zeitungen gerückt, die schon 2007 entstand und nun auf Deutsch vorliegt. Es heißt, die Verfasser sind anonym. Müssen sie wohl auch, denn die Schrift heißt: „Der kommende Aufstand“
So gewiss wie Karl Marx die proletarische Revolution voraus sagte, so gewiss erklären die Verfasser der anonymen Flugschrift, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft bröckelt, weil er falsch begründet ist. Die falsche Begründung liegt nach Ansicht der Autoren in der Arbeit als einzigem Mittel zu Wohlstand und als einzigem Anspruch auf Wohlstand. Wohlstand definieren sie als wohldosierte Fähigkeit eines Menschen, für sich und die Seinen zu sorgen. Immer sind es andere, die über die Höhe der zugeteilten Dosis entscheiden. Deshalb gärt es, und was lange gärt, wird Wut, und daher wird es unvermeidlich zu solchen Aufständen kommen wie den zu den brennenden Autos in Pariser Armutsvororten.
Die merkwürdige Schrift ist zweimal ins Deutsche übersetzt worden: Einmal von einer Gruppe radikaler Linker und einmal vom Verlag Nautilus, der die Schrift als Büchlein heraus gebracht hat. Weil die Verfasser anonym bleiben wollen, kann man auch nichts darüber sagen, wer sie sind. Aber aus dem Sprachstil kann man auf eine geballte Ladung Wut schließen. Von Soziologie und Politikwissenschaft scheinen die Verfasser auch schon gehört zu haben, denn der Text wirkt manchmal, als solle die Wut in den Mantel des wissenschaftlichen Sprachgist?ebrauchs gehüllt werden. Dennoch wirkt der Ausdruck ungeschult und wild schäumend. Ob das französische Original genauso schlechtes französisch ist wie die Übersetzung schlechtes deutsch? Ständig holpert der Text über Versuche, einen geisteswissenschaftlichen Stil in die Darstellung zu bringen. Das geht bis kurz vor Schluss gründlich daneben.Solange sind es gute Gedanken, die im Stadium der Empörung stecken bleiben. Zum Ende kommt ein praktischer Teil. Darin geht es um die Art und Weise, wie man sich mit den Bullen anlegt, jedenfalls in Frankreich. Das kann eine unbeabsichtigte relevanz für Deutschland haben, nachdem bekannt wurde, dass bei „Castor 2010“ auch französische Bullen auf deutsche Demonstranten („Atomkraftgegner“) prügelten. Dennoch haben die Autoren ihre Verdienste. Ihnen gelingt es nämlich, Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, Konsumgesellschaft, Werbung, Selbstbestimmung und eigenständige Lebensgestaltung ziemlich genau und sorgfältig abgewogen in Beziehung auf den einzelnen Menschen und auf die Gesellschaft zu sehen. Die Analyse gipfelt in dem Resümee, dass ein Mensch, der sich seinen Lebensunterhalt verdienen muss, weil er sonst nicht mit den Verhältnissen leben kann, nichts weiter ist als Geld, welches Zahlungsmittel ist und Warencharakter hat. „Humankapital“ heißt der Euphemismus für die modernen Sklaven. Und die Nutznießer lachen sich schlapp. Es kommt heraus, dass die Gesellschaft nicht mehr existiert, sondern durch lose Netzwerke ersetzt wurde. Leider bleibt die Frage offen, ob Netzwerke so solidarisch sein können wie eine Gesellschaft im besten Sinne des Wortes. Nebenbei bemerkt: Es muss gar nicht immer alles mit Gewalt gehen. Bei jedem politischen Problem bleibt mindestens ein Weg übrig ohne Gewalt, aber dafür mit Witz und Geist.
Edition Nautilus Hamburg 2010
Sprüchekasten
„Wenn die Sache ernst wird, besetzt die Armee das Territorium“
„Für den Einsatz der Armee bedarf es eines zum Blutbad entschlossenen Staates“
„Die Armee im Einsatz ist das sich beschleunigende Ende“
„Politisch ist es nicht unmöglich, eine Armee zu besiegen“

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