Zeitgeist: Luther, Hamlet und ich

Kürzlich, es war wohl um Ostern, war ich auf der Wartburg. Oben pfiff der Wind ziemlich kühl um den Kopf, genauso wie er sonst durch die löchrigen Jacken der Arbeitslosen und Einkommenslosen pfeift. Um Schutz zu finden, betrat ich einen Laden…

Läden dürfen bei keiner Sehenswürdigkeit fehlen. Deshalb gibt es auf der Wartburg einen. In ihm gibt es Regale mit Büchern, Kalendern, Souvenirs von Kitsch bis brauchbar sowie vielerlei Postkarten. Ich kaufte mir dort ein Buch, weil es „Beyssig sein ist nutz und not“ heißt. „Beyssig“ heißt heute bissig, und bissig sein ist auch heute noch nötig und hoffentlich auch nützlich, trotz und wegen des in den letzten 500 Jahren immer dicker gewordenen Felles der Herrschaftsfiguren.
Das Buch von der Wartburg heißt mit Untertitel „Flugschriften zur Lutherzeit“. Flugschriften – das hieß: Der Buchdruck war erfunden, die mediale Verbreitung nahm ihren Lauf, und inhaltlich brachten die verschiedenen Blätter mit Karikaturen und Holzschnitten alles auf den Punkt, was den Zeitgeist umtrieb: Hölle, Himmel, Pest, Ablass, Armut, Leben, Erlösung, Sünde.
„Das Flugblatt“ sucht den Zeitgeist noch, ahnt aber schon, was ihn umtreibt: Armut, Krise, Terrorangst, Rechtsreduzierung, Herrschaftsstraffung. Wir suchen ihn, indem wir uns mit politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und vor allem frechen Themen befassen. Dazu brauchen wir vor allem Sinnlichkeit, Geist, Witz, Charme und Biss. „Das Flugblatt“ erscheint heute in seiner 25. Ausgabe. Die Hoffnung auf den Nutzen unserer Bisse ist ungebrochen. Die Hoffnung auf ein Gleichgewicht von Charme und Biss, Sinnlichkeit und Geist mit Witz ist ebenfalls ungebrochen.
Luther hatte in die Flugblätterei sprachliches Donnergrollen gebracht. So möcht man manchmal – aber wegen guter Erziehung hält man sich verbal oft zurück. Mehr Schiß als Biß – „so macht Gewissen feige aus uns allen.  Der angeborenen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt. Und Unternehmungen voll Macht und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Handlung  Namen“. Das hat  Kollege Hamlet mal gesagt. Nämlich in seiner berühmten Rede „Sein oder Nichtsein“.

Übrigens: Ich muß in Kürze zum Zahnarzt. Ich brauche meine Zähne noch, um auch morgen noch mit strahlendem Lächeln zuzubeißen.

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