FEUILLETON-ZEITGEIST: 100 Jahre Rapallo (2)

Teil 2

FEUILLETON-ZEITGEIST

„100 Jahre Rapallo-Vertrag”

Teil 2: Auf dem Weg nach Rapallo

Ex Oriente Lux II – Auf dem Weg nach Rapallo

von Solotänzer

In der Aprilausgabe des Flugblattes haben wir eine Reise in die Vergangenheit begonnen. Wir blickten etwa 100 Jahre zurück in die Vergangenheit, nicht nostalgisch schwärmend, sondern mit wachem Auge auf eine europäische und insbesondere deutsche Wirklichkeit am Ausgang des ersten Weltkrieges.

Die politische Ordnung war zerrüttet, der Krieg endete in der totalen Erschöpfung der nationalen Volkswirtschaften. Mangel an Grundnahrungsmitteln, Rezession, Währungsverfall, Hunger und Elend in bislang nicht gekanntem Ausmaß prägten den Lebensalltag. Mit den Pariser Friedensverträgen, allen voran, dem Versailler Vertrag schufen die alliierten Siegermächte eine repressive Variante neuer sicherheitsversprechender Regelungen. Deutschland wurde in eine Korsett reparationspolitischer Zwangsmaßnahmen zur Entschädigung und Wiedergutmachung gezwängt, dessen moralischer Sühnecharakter sachliche Erwägungen zu überbieten schien. Der territoriale Verlust von bisherigen Staatsgebieten (Ostpreußen, Teile Schlesiens, überseeische Kolonien) und die Besetzung industriell wichtiger Landesteile (Rheinland, Saargebiet) dezimierten nicht nur den Bevölkerungsbestand, sondern reduzierten auch wertvolle volkswirtschaftliche Aktiva. Die kompromisslose Haltung Großbritanniens, Frankreichs und Italiens koppelte Deutschland von der Weltwirtschaft ab und isolierte es außenpolitisch, schließlich annullierte der Versailler Vertrag in Art. 116 u.a. alle bisherigen völkerrechtlichen Vertragsbeziehungen des Deutschen Kaiserreiches zur maximalistischen Regierung in Rußland . Gleichzeitig trat die revolutionäre Idee der kommunistischen Weltanschauung in Gestalt der russischen bolschewistischen Bewegung ihren Siegeszug an. Der Versuch eines Exportes des Revolutionsfunken destabilisierte für kurze Zeit die im Entstehen begriffene Weimarer Republik, konnte jedoch kein leidenschaftliches Feuer entfachen. Dennoch blieben die Angst vor der Wirkung sowjetrussischer Propagandaaktivitäten, die finanzielle Last der Reparationszahlungen, Demilitarisierungsverpflichtungen und das psychologische Stigma alleiniger Kriegsschuld, die innen-und außenpolitisch prägenden Faktoren. Die Durchführung der Bestimmungen des Friedensvertrages überschattete das Bemühen jeder Reichsregierung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zu aktiver Politikgestaltung. Das erste Kabinett Scheidemann trat mit Bekanntwerden der Friedensbedingungen im Juni 1919 zurück. Ihm folgten bis Ende 1922 fünf weitere Regierungsbildungen (die Kabinette Bauer, Müller, Fehrenbach, Wirth I und II). Lloyd George, damaliger britischer Premierminister bekannte in Bezug auf Deutschland während einer Rede im Londoner Unterhaus am 29.04.1920: „(…)Man hat es zutun mit einem gekrümmt daliegenden Wesen, das nicht Gewalt über seine Gliedern und Muskeln hat. Seine Handlungen sind krampfhaft. Es hat Gewalt übers seine Stimme und das ist ungefähr auch alles. Berichte von englischen Offizieren erreichen mich, dass Hungersnot im Lande sei. (…)“1 Mehrere alliierte Kontrollgremien in Form der Reparationskommission und weiterer Militärkommissionen überwachten akribisch den Verlauf der deutschen Schuldentilgung und die deutschen Fortschritte bei der Entwaffnung. Ihre reparationspolitischen Forderungen wurden in schriftlichen Noten überreicht, die, wie Außenminister Rathenau z.B. anlässlich einer Reichstagsrede vom 29.03.1922 zählen lies, innerhalb von zwei Monaten eine Größenordnung von 100 zur Beantwortung erreichten.2 Die Gefahr militärischer Sanktionen bei Nichteinhaltung der Verpflichtungen, v.a. eine stets im Raum schwebende Besetzung des Ruhrgebietes mit seinen Kohlevorkommen bewogen die Regierungen der ersten Nachkriegszeit zu einer erfüllungspolitischen Positionierung. „Die Erfüllungspolitik hatte den Sinn, die Diskussionen über die Unerfüllbarkeit der unmöglichen 132 Milliardenforderung zu verschieben-sich angesichts der völlig ungerechten Einstellung des Auslandes Deutschland gegenüber durch ehrliche Bemühungen um die Erfüllung wieder eine bessere moralische Position zu sichern und durch die Praxis den wirtschaftlichen Unsinn der 132 Milliardenforderung darzulegen. … Die Erfüllungspolitik trug in sich eine natürliche und ernste Grenze: Erst Brot, dann Reparationen! … Bei einem Dollarstand von 4-6000.- aber sah alle Welt, dass die Ernährung des Deutschen Volkes in Frage gestellt war. (…)“3 Der erwähnte wirtschaftliche Unsinn entstammte dem sogenannten Londoner Ultimatum vom 05.05.1921, in dem die Verbandsregierungen (England, Frankreich, Italien, Japan) einen deutschen Rückstand in der Verpflichtung zur Entwaffnung und Reparationszahlung feststellten. Bis zum 12.05.1922 wurde die Annahme eines Zahlungsplanes verlangt, der die Gesamtsumme der Reparationszahlung auf 132 Milliarden Goldmark bezifferte, anderenfalls erfolge die sofortige militärische Besetzung des Ruhrgebietes. Innerhalb von 25 Tagen sollten 1 Milliarde in Goldmark oder anerkannten Devisen gezahlt werden. Die bedingungslose Annahme des Ultimatums durch die neugebildete Regierung Dr. Wirth verhinderte Schlimmeres. Das Verhältnis Deutschlands zu den Ententemächten verschlechterte sich jedoch zusehend. Auf der im Januar 1922 abgehaltenen Konferenz von Cannes ersuchte die deutsche Regierung gegenüber den Siegermächten um eine vernünftige Regelung der Reparationslasten, da der Staat sich an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit befände. Der deutsche Vertreter Dr. Rathenau legte als Sachverständiger dar, dass die passive deutsche Handelsbilanz bei steigenden Zahlungsforderungen zum weiteren Kursverfall der Währung führe und die wachsende Inflation jede Konsolidierung des Staatshaushaltes aus dem Gleichgewicht bringt.4 Dieser Einsicht folgend, erzielte Rathenau ein Schuldenmoratorium und eine zukünftige Dekadenzahlung von 31 Millionen Goldmark (Überweisung aller 10 Tage). In realistischer Betrachtungsweise erkannte die britische Seite, das es in zivilisierten Ländern gelte, der der einen Schaden angerichtet hat, ihn wieder gutmachen muss und daher Deutschland zahlen müsse bis zum Höchstgrade seiner Leistungsfähigkeit.5 Wenn der Vertreter Großbritanniens jedoch dafür eintrete, dass Deutschland nicht zum Hungertod getrieben werde, so sei dies keine Deutschfreundlichkeit, sondern es müsse vermieden werden, Deutschland in das Chaos zu stürzen, in dem Rußland gegenwärtig darniederliegt.6 „Wenn die sozialen Verhältnisse in Deutschland zerrüttet werden, so wird es sich infolge seiner Fähigkeiten und des Temperamentes seiner Einwohner als etwas viel Gefährlicheres erheben, als Russland für seine Nachbarn ist.“7 Diese mäßigende Haltung aus Angst vor revolutionären, revanchistischen Umwälzungen begründete auch den auf der Konferenz gefassten Beschluss zugunsten einer gesamteuropäischen Wirtschafts-und Wiederaufbaukonferenz in Genua im März 1922. Die in einer Resolution gefassten Bedingung der Anerkennung von staatlicher Oberhoheit und territorialer Integrität, Eigentumsgarantien, Ersatz für Sozialisierungsschäden, Handelssicherheiten und des Verzichts auf propagandistische Gefährdung der jeweiligen staatlichen Ordnung wurden als essentiell betrachtet.8 Unter diesen zu akzeptierenden Voraussetzungen könne auch Rußland die Anerkennung seiner neuen Staatlichkeit gewährt werden.9 Eine gemeinsame Anstrengung der Kräfte sollte in Genua der europäischen Wirtschaftsidee die gelähmte Lebenskraft wiedergeben.10 Bis dahin störten jedoch zwei Ereignisse die verständigungsorientierte Hinwendung Deutschlands zu den westlichen Stabilisierungsvorschlägen. Nachdem der neue polnische Nationalstaat auch aus ehemaligen Gebieten des deutschen Kaiserreiches und des russischen Zarenreiches aus der Taufe gehoben wurde, behielt sich der Versailler Vertrag (Art. 88) hinsichtlich der identitätsgewichtigen oberschlesischen Region die Regelung eines späteren Plebiszites vor. Dieses ereignete sich am 20.03.1921 und war zeitlich umrahmt von einer sehr gewalttätigen Konkurrenz zwischen polnischem und deutschem Patriotismus. Im Ergebnis votierten fast 60 % der Einwohner für einen Verbleib in Deutschland, was zu anarchieähnlichen Gewaltausschreitungen zwischen selbsternannten deutschen Selbstschutzverbänden und polnischen Aufständischen, unter gewisser Duldung seitens alliierter französischer Interventionstruppen, führte. Die Entscheidung über den zukünftigen Status fällte am 12.10.1921 ein Schiedsspruch des Völkerbundrates in Genf. Oberschlesien wurde geteilt, ein Drittel, d.h. 45% der Bevölkerung, 90% der Steinkohlenlagerstätten, 75% der Industrieanlagen wurden Polen zuerkannt.11 Die deutsche Regierung sah darin eine eklatante Verletzung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes und so trat das erste Kabinett des Reichskanzlers Dr. Joseph Wirth zurück, welcher bereits am 26.10.2021 wiederum eine neue Regierung im Auftrag von Reichspräsident Ebert bildete, der ab Februar 1922 auch Dr. Walther Rathenau als Außenminister angehören sollte. Der Vertrauensverlust gegenüber den Alliierten wirkte nachhaltig und insbesondere ihre Interpretation einzelner Vorschriften des Versailler Vertrages setzte ein deutliches Negativzeichen, dass u.a. die Ausweitung russlandpolitischer Optionen forcierte.12 Eine nochmalige Zuspitzung erfuhr die konfliktbelastete Situation durch die Note der (französisch dominerten) Reparationskommission vom 21.03.1922. „Das neue Pariser Diktat“ titelte am 23.03.1922 die Deutsche Allgemeine Zeitung und veröffentlichte im Wortlaut der Note, dass Deutschland weitere 720 Millionen Goldmark in bar zu zahlen bzw. durch veränderte Steuergesetzgebung zusätzliche Mehreinnahmen von mindestens 60 Milliarden Papiermark zu generieren hat.13 Die Grenze des Zumutbaren war erreicht und in seltener parlamentarischer Einigkeit wurde diesen Forderungen, eine Absage erteilt. Der damals amtierende Reichskanzler Dr. Wirth erwiderte dann auch in einer Reichstagsdebatte am 28.03.1922:“(…)Wir haben uns die Frage vorzulegen, ob die Verträge, die uns auferlegt sind, in ihrem Wortlaut und Sinne es gestatten, dass das Ausland, so wie es hier geschehen soll, in die Exekutive der deutschen Regierung, in die Hoheitsrechte der Nation und die gesetzgeberischen Befugnisse des Deutschen Reichstags eingreift. (…) In nicht ganz zwei Wochen wird in Genua die Konferenz eröffnet werden, deren großes Ziel die Wiederaufrichtung der Weltwirtschaft ist. Das Kernproblem hierbei ist der Wiederaufbau Mitteleuropas und Rußlands. Ich kann mir nicht denken, daß in einem Augenblicke, in dem sich alle … an der Weltwirtschaft beteiligten Nationen zusammenfinden …in leichtfertiger Weise die erste und vornehmste Voraussetzung zu dem Gelingen des Werkes in Genua beseitigt werden soll. Der Wiederaufbau Mitteleuropas und Rußlands ist ohne die wirtschaftliche Gesundung Deutschlands unmöglich. (…)“14 Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Parlament ergänzte Dr. Gustav Stresemann am 29.03.1922 hinsichtlich des Wiederaufbaus Rußlands: Ich möchte vor allen Dingen betonen, daß man Rußland nicht in die Lage bringen darf, etwa die Anschauung zu haben, daß es von uns mit als eine Ausbeutungskolonie des internationalen Kapitals angesehen würde, das ihm allein die Bedingungen vorschreibt, unter denen es Waren zu beziehen hätte. …Wir, die eine besonders enge Schicksalsgemeinschaft mit Rußland verbindet, da wir ja die Hauptleidtragenden des Weltkrieges sind, sollten am ehesten, wenn wir eine Stimme in dieser Frage gegenüber den anderen Nationen haben, diese Stimme für den russischen Wiederaufbau und für die Vertretung berechtigter Interessen bei der Form des Wiederaubaus erheben und und ihm nicht gegenüberstellen als Glied einer ihm doch wirtschaftlich feindlich gegenüberstehenden internationalen Vereinigung.(…)“15 Im Anschluss bekräftigte Außenminister Dr. Rathenau: „Wir wollen die Erfüllung, soweit sie im Rahmen der Möglichkeit liegt, nicht als Selbstzweck, sondern als Weg zum Frieden. Wir wollen den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete als Weg zum Frieden und wir wollen nach Kräften beitragen zur Entbürdung und zum Wiederaubau der Welt. …Kann nun Genua dieser friedlosen Welt den ersehnten Frieden bringen?…Wir müssen erwägen, mit welchen Gedanken, aber auch mit welchen Gefühlen, wir uns einer Konferenz nähern, auf der das Schicksal und der Aufbau einer Welt behandelt werden soll, aber nicht der unseren, nicht unser Aufbau und nicht unser Schicksal. Lässt sich eine Brücke finden, -gut! Läßt es sich nicht finden, so wird Genua das Schicksal von vielen anderen Konferenzen teilen. … Zweifellos wird Genua für Rußland manches Wesentliche bringen, und ich will nicht einen Augenblick die Auffassung der Kabinettsregierung unausgesprochen lassen, die dahin geht, daß wir nach Ausmaß unserer Kräfte uns aufrichtig bemühen werden am Wiederaufbau Rußlands mitzuwirken. Dabei ist der Weg von Syndikaten nicht der entscheidende … Syndikate können nützlich sein…Dagegen wird das Wesentliche unserer Aufbauarbeit zwischen uns und Rußland selbst zu besprechen sein. …Solche Besprechungen haben stattgefunden und finden weiter statt und ich werde sie mit allen Mittel fördern. Es ist kein Gedanke daran, daß Deutschland etwa die Absicht hätte, Rußland gegenüber, die Rolle des kapitallüsternen Kolonisten zu spielen. … Soll, meine Herren, aus dem Chaos der Welt ein Ausweg gefunden werden, so ist es nötig, den Rahmen weiter zu spannen, als es durch die Note der Reparationskommission geschehen ist.(…)“16 Hören sich diese Worte nicht an, wie eine Prophezeiung des gut zwei Wochen später, in nahezu unvorhersehbarer Überraschung, abgeschlossenen Vertrages von Rapallo?

Zu der unter Federführung des britischen Premiers Lloyd George für den 10.April 1922 anberaumten Konferenz von Genua erhielt Deutschland durch eine Note der italienischen Botschaft in Berlin vom 16.01.1922 seine Einladung zur Teilnahme. Dieser Note war neben der beabsichtigten Tagesordnung, auch die Resolution der Konferenz von Cannes vom 06.01.1922 beigefügt. Darüber hinaus wurden die Vorstellungen der französischen Regierung über den (eingeschränkten) Tätigkeitsbereich der Konferenz übermittelt. Keinesfalls sollten Themen berührt werden, die zu einer Debatte über die v.a. finanzpolitischen Regelungen des Versailler Vertrages führen könnten. „Die bestehenden Verträge, d. d. diejenigen, die aus der Friedenskonferenz hervorgegangen sind, bilden das öffentliche europäische Recht; an sie kann nicht gerührt werden, ohne den Frieden Europas beträchtlich zu stören…. Die französische Regierung kann auf keine Weise zulassen, daß diese Verträge oder irgendeine Bestimmung dieser Verträge zur Erörterung gestellt werden…“17 Die Billigung der mitgeteilten Vorbedingungen wurde allein durch die Konferenzteilnahme als vollzogen betrachtet. In ähnlicher inhaltlicher Stoßrichtung äußerte sich Lloyd George in einer Unterhausrede vom 03.04.1922, demnach eine Versammlung, wie in Genua nicht geeignet wäre, bestehende Verträge einer Revision zu unterziehen, auch wenn eine solche wünschenswert wäre. Unzweifelhaft hätten die nach Versailler Vertrag vorgenommenen Grenzänderungen neue wirtschaftliche Schwierigkeiten hervorgerufen. Die Reparationen hätten eine wirtschaftliche Desorganisation nicht verursacht. Die Schwierigkeit der Lage sei der Tatsache zu zuschreiben, dass Frankreich und Belgien zerstört worden seien. Wenn der Versailler Vertrag geändert würde, so würde die Last von Deutschland auf Frankreich und Belgien verschoben werden. Diese Fragen könnten dem Urteil einer Konferenz auf der Deutschland, Österreich, Ungarn, Rußland und die Neutralen vertreten seien, nicht unterbreitet werden.18 Es zeichnete sich also bereits vor Eröffnung diese Konferenz der „Gleichberechtigten“ eine Rollenverteilung ab, in der die Verliererstaaten des Krieges gegenüber den einladenden Mächten eine Objektfunktion zu erwarten hatten. Dementsprechend gedämpft fielen die Hoffnungen auf belastbare Ergebnisse in der Reihe der deutschen Delegationsteilnehmer aus.

Bevor die deutsche Delegation ihren Sonderzug nach Genua am Samstag, den 08.04.1922 mittags in Berlin bestieg19, wurde im Rahmen einer offiziellen Ministerratssitzung vom 05.04.1922, 10:30 Uhr im Beisein des Reichspräsidenten Ebert eine grundlegende Verständigung hergestellt. Außenminister Dr. Rathenau vertrat eine sehr zurückhaltende Auffassung und sah wenig Hoffnung auf konstruktive Konferenzergebnisse. Nach der enttäuschenden Absage der Vereinigten Staaten an der Konferenz teilzunehmen, beklagte er die thematisch recht einseitige Vorlagerung der Rußlandfrage durch den britischen Premier. Das russischer Problem sei für die Deutschland eher von langfristiger Bedeutung, schließlich stünde Deutschland (im Gegensatz zu Frankreich und England) de facto und de jure zu Rußland anders. Er hoffe auf einen kontaktbildenden Gedankenaustausch, der in den zu bildenden Fachkommissionen (z.B. für Finanzfragen – Anm. des Verf. ) die Möglichkeit böte, vielleicht Hauptfragen (das Reparationsproblem – Anm. des Verf.) einzuwerfen. Insgesamt sei die Größe der Konferenz mit 1600 Personen aus 40 Nationen, deren Dauer er zwischen 4 Tagen und 8 Wochen schätze, nicht für zielführende Beschlüsse geeignet. Er ginge nicht sehr hoffnungsfreudig nach Genua und würde zufrieden sein, „wenn die Delegation zurückkehre, ohne daß ein Unglück geschehen sei.“20 Allerdings dürfte Deutschland nicht das Aschenbrödel der Konferenz spielen, die Russen würden sicherlich sehr selbstbewusst auftreten.21 Reichskanzler Dr.Wirth prophezeite einen kritischen Beginn der Konferenz, schließlich verkörpere sie eine Art Parlament der Nation und die Lage würde schwierig werden, falls einige Probleme ausdrücklich nicht behandelt werden dürften. Er plädierte für diesen Fall zu einem aktiven deutschen Auftreten. „Sollten wir das russische oder mitteleuropäische Problem selbst aufwerfen? Er sei der Ansicht, daß wer nicht durch Stellung dieser Probleme aktiv werde, in den Hintergrund gedrängt werde. (…) Wenn wir uns auf das Schweigen beschränkten, so könnten wir uns innenpolitisch nicht halten.“22 Der Reichspräsident betonte seine Überzeugung, wonach das Wirtschaftsproblem nicht ohne die Kernfrage des Reparationsproblems erfolgreich erörtert werden könne. Die vom französischen Premierminister Poincaré gewünscht scharfe Einschränkung der Diskussion dürfe die deutsche Delegation nicht zu demütigenden Protesterklärungen hinreißen lassen, da zu vermuten ist, dass die Entente-Staaten ihre Stellung bereits festgelegt hätten. Ebert verlieh seiner staatsrechtlichen Position noch einmal eine scharfe Präzisierung. „Die Delegation vertrete das Reich völkerrechtlich. Diese Vertretung läge verfassungsmäßig in seiner Hand. Das sei auch bei der Vollziehung von Abreden der Fall, soweit sie nicht dem Reichstag vorzulegen seien. Er müsse deshalb mit dem größten Nachdruck darauf hinweisen, daß, wenn in Genua konkrete Abreden in Frage ständen, die Delegation vorher mit ihm und den hiesigen Kabinettsmitgliedern sich verständigen müsste.“23 Dass aus deutscher Perspektive versucht werden solle, in sachlichen Einzelerörterungen das Kernproblem der Reparationen zur Sprache zu bringen, beschreibt den Standpunkt des Reichsschatzministers Bauer. Die deutsche Delegation beabsichtigte, sofern sie ihre Auffassung zur Sprache bringen könnte, die Darlegung der besonders schwierigen deutschen Wirtschaftslage und wollte Vorschläge zu den Gebieten Wirtschaft und Handel, Verkehr bzw. Finanzen unterbreiten, wie Staatssekretär von Simson ausführte.24 Der Staatsminister Dr. Rathenau erwähnte schließlich eingehender das bisherige Verhalten der russischen Vertreter. „Die Russen wollen jetzt über alle möglichen Dinge mit uns sprechen.“25 Die deutsche Unterstützung hinge vom Maß des russischen Entgegenkommens ab. Da ihnen der Beitritt zum Versailler Vertrag vorbehalten wurde, müssten wir uns zwar mit Rußland hierüber einigen, dürften mit dieser Einigung aber nicht in Konflikt mit den Westmächten geraten.26 Rathenau nahm dabei Bezug auf Gespräche mit Radek, Tschitscherin und Litwinow27, in denen sie sich übereinstimmend gegen die Ausbeutungsabsicht des geplanten Wirtschaftssyndikates28 wanden. Auf die Frage nach eventuellen russischen Gegenleistungen, sollte Deutschland alle Geschäfte des Syndikates mit Rußland ablehnen, bleib eine Antwort aus, was als Ausdruck höchster Unzuverlässigkeit zu werten sei.29 Daher ist es sehr schwer mit den Russen in ein wirkliches Verhältnis zu kommen, allerdings bräuchten sie uns mehr, als wir sie, referierte der Außenminister.30 Ungeachtet eine ressortspezifischen soliden deutschen Vorbereitungen wurde der Gang nach Genua von einen ungewissen Aussicht auf Erfolg und sehr verhaltenem Optimismus begleitet. Bekam man als proklamierter Paria der Weltgemeinschaft die Chance auf Gehör? oder musste die deutsche Delegation erleben, wie sie zum Spielball anderer nationaler Interessengegensätze wurde? Ein erster Schritt zu Rückkehr in eine Position selbstbestimmter außenpolitischer Präsentation schien in greifbare Nähe zu rücken. In dieser Hinsicht waren Rußland und Deutschland in gleichberechtigter Lage, nur ob man ihnen die gewünschte Akzeptanz gewähren würde, stand noch in den Sternen der italienischen Riviera.

(Teil III folgt im Juni)


1  Nachlass Dr. Wirth BA N1342/62

2  Verhandlungen des Reichstages Bd. 353, S. 6613, Berlin 1922

3  Walter Simons (Außenminister bis 04.05.21 im Kabinett Fehrenbach) private Aufzeichnung 1922 in: BA N 1048/18 (Nachlass Dr. Wirth)

4  Dr.Rathenau, Rede in Cannes (Zeitungsausschnitt) in: BA N1048/17 (Nachlass Dr. Wirth)

5  Rede Lloyd George auf der Konferenz von Cannes (Zeitungsausschnitt) in: BA N1048/17 Nachlass Dr. Wirth

6  ebenda

7  ebenda

8  Resolution von Genua (Zeitungsausschnitt) in:BA N1048/17 Nachlass Dr. Wirth

9  ebenda

10  ebenda

11  siehe Guido Hitze in: Die Oberschlesische Frage im Jahre 1921, Aufsatz in: PM 12/02, S.61

12  Niels Joeres: Der Architekt von Rapallo, Heidelberg 2006,S.243, siehe: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6751/1/Pflichtveroeffentlichung.pdf

13  DAZ in: https://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27646518/-/1922/#apr

14  Verhandlungen des Reichstages Bd. 353, S. 6622, Berlin 1922

15  Verhandlungen des Reichstages Bd. 353, S. 6648, Berlin 1922

16  Verhandlungen des Reichstages Bd. 353, S. 6655, Berlin 1922

17  Material über die Konferenz von Genua in: Verhandlungen des Reichstages, Bd. 373 1920/24, Berlin 1924

18  DAZ (Deutsche Allgemeine Zeitung) vom 04.04.1922 in: https://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/2807323X/-/1922/#apr

19  ebenda

20  https://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/1100/wir/wir2p/kap1_1/kap2_5/para3_2.html, S.1-9

21  siehe ebenda                                                   

22  siehe ebenda

23  siehe ebenda

24  siehe ebenda

25 siehe ebenda

26  

27  Tschitscherin:1918-1930 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion, Litwinow amtierte als sein Stellvertreter. Karl Radek repräsentierte einen Berufsrevolutionär mit politischen Ämtern im Zentralkomitee der KPdSU und der kommunistischen Internationale, galt als enger Weggefährte Lenins

28  Die Alliierten planten ein internationales Kreditgeberkonsortium für den russischen Wiederaufbau, sofern das Land die Vorkriegsschulden des Zarenreiches anerkennt.

29  siehe Fn.20

30  siehe Fn.20

Dieser Beitrag wurde unter Feuilleton-Zeitgeist abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.